Das 19. Jahrhundert: Die Memoiren von Pfarrer Winnerling

 

 

Aus dem Leben in Binzwan­gen während des 19. Jahrhun­derts existieren wertvolle Aufze­ich­nun­gen, die für so kleine Dör­fer aus dieser Zeit nor­maler­weise nicht existieren. Sie stam­men von Pfar­rer Hein­rich Win­ner­ling, der 1818 in Hof geboren wurde und nach eini­gen Pfarrstellen in Ober- und Unter­franken von 1869 bis zu seinem Tod 1884 in Binzwan­gen tätig war. In seinen umfan­gre­ichen Lebenserin­nerun­gen find­en sich einige Stellen, die das Leben in Binzwan­gen während sein­er Amt­szeit illus­tri­eren und einen span­nen­den Ein­blick in diese schon lange vergessene Zeit bieten. Das Grab Win­ner­lings befind­et sich bis heute auf dem Fried­hof in Binzwan­gen.

Par­al­lel zur Veröf­fentlichung hier erscheinen die Auszüge auch als Beilage zum Gemein­de­blatt der Kirchenge­mein­den Binzwan­gen-Stet­tberg-Cadolzhofen.


Die Versetzung nach Binzwangen
»Der heilige Andreasabend des Jahres 1867 war gekommen. Nach alter Gewohnheit feierte ich ihn in meiner sonnigen Weise als meinen Jahrestag. (…) Hoffnungsvoll schaute ich dem kommenden Jahre entgegen. In dieser Hoffnung löschte ich nach langem Wachen die Lampe aus und stieg die Treppe empor, um mich in dem unheimlichen Zimmer zur Ruhe zu legen. Ehe ich jedoch die Augen zum Schlummer schloß und nachdem ich mein Nachtgebet verrichtet hatte, legte ich dem heiligen Andreas mein Anliegen an das Herz, er wolle mir in einem Traumgebilde in dieser Nacht anzeigen, ob das kommende neue Jahr mir eine andere Stelle bringen werde? Und wirklich träumte mir es so, wie ich gewünscht und ich erhob mich am Morgen von meinem Lager in der gewissen Zuversicht, mein langgehegter Wunsch werde sich in nächster Zeit erfüllen.
Der Frühling war gekommen, als ich eines Abends mit meiner Frau von Marktbreit mit dem Omnibus nach Kitzingen fuhr. Ein fremder Mann teilte mit uns das Innere des Gefährtes, den wir in der Dunkelheit nicht wahrnehmen konnte. Er nahm das Gespräch auf und weil er herausgefunden hatte, daß ich dem geistlichen Stande angehöre, erzählte er uns von dem geistlichen Herrn in Binzwangen und wie die Pfarrei Binzwangen eine so gute Stelle sei; wie aber leider der gegenwärtige Geistliche mit seiner Gemeinde in Streit lebe, weswegen er täglich Versetzung auf Theilenhofen entgegensehe. Das wäre eine Stelle für uns, sagte ich zu meiner Frau, als wir in Kitzingen angelangt aus dem Wagen stiegen.
Schon nach wenigen Wochen ward besagte Pfarrei zur Bewerbung ausgeschrieben. Ich setzte mich hin und meldete mich um sie und zugleich um Flachslanden. (…) An einem Sonntag Anfangs September 1868 brachte mir der blaubefrackte Postbote von Kitzingen einen Brief, eben als ich in der grünen Laube des Schloßnagelschen Gartens in Buchbrunn mich von meiner Sonntagsarbeit ausruhte. Lange hielt ich den Brief unerbrochen in meiner Hand. Eine Ahnung seines Inhalts zog durch meine Seele. Als ich ihn endlich mit zitternder Hand öffnete, hatte sich erfüllt, was das vierblättrige Kleebatt am rauschenden Bächlein mir in seiner geheimnisvollen Sprache vor einem viertel Jahr verheißen hatte: Ich war zum Pfarrer von Binzwangen ernannt. Auch das Traumgebilde in der heiligen Andreasnacht war zur Wirklichkeit geworden. (…) Mit dem 8. November war meine Ernennung zum Pfarrer auf Binzwangen in den Zeitungen zu lesen.«
Die Ankunft in Binzwangen
 
»Am 31. März [1869] nachmittags langte ich auf dem Bahnhof Oberdachstetten an. Allda wartete meiner der Gemeindediener von Binzwangen mit einer Chaise und einem offenen Wägelein. Der Empfang war demnach kein besonders festlicher. In die Chaise schob ich den Säugling mit der Magd und einigen Kindern. Ich selbst nahm mit der Wöchnerin auf dem ungedeckten Wägelein Platz. Als wir auf die Höhe kamen, zog ein eisiger Schneeschauer über uns hinweg, dem jedoch der warme Strahl der Frühlingssonne folgte; ein getreues Vor- und Abbild von dem, was meiner in Binzwangen warten sollte; ein Wechsel von Leid und Freud, von guten und bösen Tagen. Unter Glockengeläute hielt ich meinen Einzug in der Mitte der Schuljugend, welche mich einholte. Vor dem Portal der Kirche begrüßte ich die versammelte Gemeindevertretung in einer kurzen Anrede als ein Apostel des Friedens. Wir herbergten in der ersten Nacht im Mayer’schen Gasthof, weil das Pfarrhaus noch nicht in wohnlichen Stand gesetzt war. (…)
Drei unangenehme Dinge traf ich in Binzwangen an; ein in Verfall geratenes Haus, eine verwilderte Gemeinde und verrufene Vorgänger. Wenn schon die Befehle von Oben gegeben waren, das Pfarrhaus in wohnlichen Stand zu setzen, so fand ich gleichwohl bei meinem Auszug, daß das Pfarrhaus einer verräucherten und verliederten Bauernhütte ähnlich sah. Weder dem Stiftungspfleger noch dem Pfarrverweser war es eingefallen, die gegebenen Befehle zur Instandsetzung auszuführen. Ich ließ daher Werkleute von Buchbrunn kommen; auch kaufte ich in Kitzingen 2 eiserne Öfen, da diese fehlten. Als ich nach zwei Jahren auf Rückerstattung dieser Heizapparate drang, mußte ich erst den Prozeßweg beschreiten.
Noch schlimmer sah es in der Gemeinde aus. Weil mein Vorgänger mit der Gemeinde wegen des Pfarrwaldes einen Prozeß geführt hatte,  war ein tiefer Riß in das Gemeindeleben geschehen, waren alle Leidenschaften entfesselt worden, war das Ansehen der Geistlichen tief gesunken, waren die Kirchenbänke und der Beichtstuhl leer. Ich mußte dieses Erbe antreten. Grobheit und Rohheit traten mir überall entgegen. (…)
Daß ich bei solchen Vorgängen einen schweren Anfang in Binzwangen haben mußte, das kann man sich wohl denken. Äußerungen, wie ich sie vernahm aus dem Munde eines alten Binzwanger: „Wenn ein Pfarrer nicht unsern Willen tut, dann kann er gleich wieder gehen“ stellten mir eine hoffnungsreiche Zukunft in Aussicht. Doch ich fühlte mich in meiner Kraft und hatte keine Furcht.
Am Sonntag Cantate, den 25. April 1869 war meine Investitur. Die Über-gabe der amtlichen Geschäfte brachten die große Liederlichkeit des Pfarrverwesers zu Tage, also daß der weltliche Kommißar unmutig mit den Füßen stampfte über die Unordnung welche sich in dem Kirchenwesen vorfand. (…) Die Mahlzeit wurde in dem obern großen Zimmer des Pfarrhauses gehalten. Zugegen waren der Dekan Matthaus von Leutershausen, der Senior Alt von Colmberg, der Pfarrer Zwanziger von Obersulzbach, der Sekretär des Consistoriums Ansbach, Schmidt, die beiden Schullehrer, der Bezirksamtmann Haber in Ansbach und der Bürgermeister von Binzwang-en, Sauerhammer. Als die weltliche Investitur geschlossen war sagte Pfr. Zwanziger zu den Gemeindevorständen und Pflegern: „So, ihr Bauern, jetzt gehet heim und freßt Eu’re Klöße!“ Dieser unparlamentarische Abschied hätte dem geistlichen Herrn beinahe Prügel eingetragen. Denn die erbosten Bauern lauerten ihm auf dem Heimwege auf. (…)
 Jahr und Tag waren vergangen und immernoch wartete ich auf Rückerstattung meiner Aufzugskosten. Ich war so kühn, die drei Gemeinden Binz-wangen, Stettberg und Cadolzhofen an ihre Schuldigkeit zu erinnern. Aber keine wollte davon etwas wissen. Ich rief nun das k. Bezirksamt Ansbach an, mir zu meinem Recht zu verhelfen. Dasselbe verurteilte die 3 Gemeinden zur Zahlung auf Grund des noch in Geltung stehenden Preußischen Landrechts. Letztere appellierten nun an die k. Regierung und als sie auch da abgewiesen waren mit ihrer Klage an die k. Staatsregierung. Aber auch diese bestätigte den Beschluß des k. Bezirksamts und es blieb den Gemeinden nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen. Vorher hatte ich in einer Sitzung der Kirchenverwaltungen mich bereit erklärt, daß ich mich mit 50 fl. begnügen wolle. Aber in ihrer Hartnäckigkeit wiesen diese Bauern meine Vorschläge zurück. Nun nachdem ich das große Trumm in den Händen hatte, berechnete ich meine Taxen bis zum letzten Pfennig. Während ihnen vorher 50 fl. zu viel waren, so mußten sie sich jetzt gefallen lassen 119 fl. zu zahlen.
Aber in welches Wespennest hatte ich gestoßen! An dem darauffolgenden Sonntag, da ich die Vergütung meiner Aufzugskosten gefordert hatte, standen alle Kirchenstühle bis auf einige wenige leer. Vor den Kirchentüren wurden die Kirchgänger angehalten und aufgefordert, nicht in die Kirche zu gehen. Die Kirchenvorstände liefen alle Wochen auf das Konsistorium und verlangten stürmisch meine Versetzung.
Rohe Burschen stiegen in einer Nacht auf einer Leiter in die Fenster der Kammer wo meine Töchter schliefen und attackierten sie. Des Abends lauerten sie vor meinem Fenster. Ich rief gegen diese sittenlosen, rohen Angriffe den Beistand der Gerichte an, in Folge dessen 14 Tage lang die Gendarmerie des Nachts in Binzwangen patrouillierte. Einen Schandfleck hatte das Bezirksamt die schmachvolle Aufführung der Binzwanger genannt. Mit schweren Strafen waren sie im Falle der Wiederkehr solcher Attentate bedroht worden. Dieses half und ich hatte von da an Ruhe.
Ich aber pflog mit der größten Gelassenheit und mit echt oberfränkischer Zähigkeit meines Amtes. Ich wich keinen Schritt zurück. In Reden und Predigten geißelte ich die wilden, rohen Sitten der Binzwanger. An den Kirchweihpredigten besonders übergoß ich sie mit beißendem Spott und Hohn, also daß sie die Zähne zusammenbissen.
Die Kirchen begannen sich mit der Zeit immer mehr zu füllen. Besonders von außen her ward der Zuzug von Kirchgängern immer stärker. Darüber erbosten sich die Binzwanger Agitatoren, während die Auswärtigen für mich Partei nahmen. „Er läßt nicht nach,“ sagten diese; „was hat er heute wiederum für eine schöne Predigt gehalten.“ Als gleichwohl von einigen Heißspornen das Ansuchen meiner Versetzung immer wiederholt eingebracht wurde bei der geistlichen Behörde, zitierte dieselbe zwei unparteiische Männer aus der Gemeinde, um den Grund oder den Ungrund dieses Verlangens festzustellen. Diese wiesen jedoch die lügenhafte Angabe der Beschwerdeführer nach und als ich vollends auf Befehl des Konsistoriums die namhafte Zahl der Abendmahlsgäste vorlegen konnte, da stand ich gerechtfertigt da und die Lügner mußten beschämt den Rückzug antreten. Fortan hatte ich Ruhe.«
Der große Orkan 1870

»Es war am 28 October 1870, als ich abends 7 1/2 Uhr in Oberdachstetten aus dem Eisenbahnzug  stieg, um nach Binzwangen heimzukehren. Ich hatte eben erst die letzten Häuser des Dorfes hinter mir, als es am westlichen Himmel anfing, stark zu blitzen. Das auf Windesflügeln heranziehende Gewitter nötigte mich, nach dem kaum verlassenen Dorfe zurückzukehren. Hier wartete ich im Gasthaus zum Stern das Unwetter ab. Bald war es vorüber und ich trat in Begleitung eines Mannes aus Colmberg zum zweiten Mal den Heimweg an. Wir waren beide noch nicht weit gegangen, als der Winde heftig an zu wehen fing, sich immer mehr in heftigen Stößen steigerte und uns zum öftern in den Straßengraben drängte. Mit großer Anstrengung erreichten wir Anfelden und suchten im dortigen Wirtshause Schutz. Wir hatten kaum das sichere Dorf erreicht, als ein Sturm losbrach, wie man einen solchen noch nie erlebt. Die Ziegel flogen von den Dächern wie leichte Spreu, die Fensterscheiben klirrten und die Wucht des andrängenden Windsturmes drohte die Fachwände des Hauses einzudrücken. Mit angsterfüllten Gesichtern schauten wir einander an. Alle Gebetsbücher wurden im Hause hervorgesucht. Der Sturm hielt in gleicher Festigkeit an; Stunde an Stunde verrann. Auf mich warteten zu hause die meinigen. Sie wussten mich ja auf dem Wege. Dreimal versuchte ich, den Heimweg anzutreten, um wenigstens den schützenden Wald zu erreichen. Dreimal warf mich der Windstrom zurück an die Wand des Gehöftes und ich musste froh seyn, daß mich nicht ein fallender Dachziegel traf. Endlich musste ich mich entschließen, im Wirtshause zu übernachten. Der Sturm aber wütete fort bis 1 Uhr Morgens. Als ich am Morgen um 7 Uhr heimkehrte, welch ein Anblick! Die Dächer zerrissen, die Zäune eingeworfen und die Bäume des Waldes zerknickt wie Weiden, ganze Häuser hingefällt, wie die Halmen eines Getreidefeldes von der Sichel. 80,000 Klafter Holz4 hatte in den Nachbarwäldern allein dieser unberufene Holzhauer gefällt. Ich aber danke Gott, daß mich der Orkan nicht im Walde überrascht hatte, denn ich wäre unfehlbar von den fallenden Bäumen erschlagen worden.«
Das Kriegsende 1871
 
»1870 begann mit Monat August der von Frankreich mit Deutschland so frivol heraufbeschworene aber in seinen Folgen für unser Vaterland so bedeutungsvolle und segensreiche Krieg: Nicht ohne Segen war er auch für die hiesige Gemeinde. Er rüttelte sie wenigstens aus ihrer sündigen Sicher-heit auf und machte die spröden Herzen mildthätiger und empfänglicher. Von ihren Söhnen, welche in diesen blutigen Krieg zogen, kehrten drei nicht mehr zurück: Johann Kaufmann von Stettberg, welcher im Kampfe fiel, und Johann Georg Hetz von Poppenbach, Michael Horender von Oberhegenau, welche dem Typhus erlagen. Ihr Gedächtniß sey uns ein Segen!«
»Am 27. Februar 1871 kam endlich der langersehnte Friede. Es war Nachmittag um 4 Uhr, ich hackte Streu und Reißig, denn im Stall standen zwei Rinder für den Haushalt – als der Kanonendonner von der Stadt Rothenburg herüberhallte und den Friedenschluß verkündigte. Ich ließ die Hacke fallen und eilte ins Haus, wo ich in meinem obern Zimmer einen Freudenschuß abfeuerte. Er widerhallte in ganz Binzwangen und das Freudenschießen wollte kein Ende nehmen. Die Häuser wurden illuminiert, die Schuljugend versammelte sich mit dem Schullehrer auf dem Kirchenplatz, die Glocken wurden geläutet und nach absingen des Liedes: „Nun danket alle Gott!“ hielt ich an die tief ergriffene, versammelte Menge eine kurze Rede, welche heiße Tränen der Rührung entlockten.« »O möchten jene Glocken, wie an jenem unvergesslichen Abende, immer Frieden läuten! und möchte die Gemeinde Binzwangen doch bedenken, was zu ihrem Frieden dient!«
»1871, am 12 März, wurde für die gesamte luth. Kirche in Bayern das Friedens-Dankfest anberaumt. Der Gottesdienst fiel ordnungsmäßig gerade auf Cadolzhofen. Deßhalb fand auch in jener Kirche die Festfeyer statt. Ich predigte über den vorgeschriebenen Text Psalm 46. Ich selbst schloß mich von aller besonderen Feyerlichkeit aus, weil ich mich streng von aller Berührung mit den Gemeinden fernhielt, während der Schullehrer von Stettberg an der Spitze der Verwaltungen nach einigen patriotischen Gesängen mit der Schuljugend Reden hielt u. dann mit der versammelten Gemeinde in die Kirche zog. Abends leuchteten auf den Höfen vielfach Freudenfeuer. Der Schullehrer von Stettberg konnte in seinem Eifer an Feyerlichkeiten sich nicht genug thun und hielt abends in Stettberg vor einem flammenden Freudenfeuer Reden, obgleich ich ihn gewarnt hatte, sich nicht unnöthig und übermäßig mit den Stettbergern einzulassen. Er sollte es noch am selbigen Abend bitter empfinden. Denn als im Wirts-hause von den Getränken die Köpfe sich erhitzt hatten, wurde er von den Stettbergern zum Hohn für seine Mühe thätlich gemißhandelt. Noch schlimmer bekam die Friedensfeyer dem Amtsnachbar Pfr. Zwanziger in Obersulzbach. Er verkältete sich bei der am lodernden Freudenfeuer gehaltenen Festrede dergestalt, daß ihn eine schmerzhafte Blasenentzündung befiel, die ihn an den Rand des Grabes brachte. Merke, wenn man 69 Lebensjahre zählt, wie der gute Zwanziger, so soll man des Nachts keine Reden im Freien halten und wäre es auch vor einem großen Freudenfeuer!
1871, am 6. August beging die gesamte Kirchengemeinde ein großes Fest, welches sie zu Ehren ihrer aus dem Felde heimgekehrten Krieger veranstaltete. 8 Tage zuvor hatten mich die 3 Verwaltungen um meine Mitwirkung ersucht. Zur Instandesetzung desselben waren circa 180 f. freiwillig zusammengelegt worden. Und in der That verlief das Fest glänzend und erscholl das Gerücht davon in weite Ferne. Die Decoration des Gotteshauses hatte meine Frau ganz allein übernommen. Es war in einen grünen Hain umgewandelt. Gegenüber des Haupteingangs war aus Grün und Blumen ein Katafalk6 angebracht, welcher der Trauer über die auf dem Felde der Ehre Gefallenen Ausdruck gab und welcher manches Auge mit Thränen füllte; auf ihm waren die Worte angebracht: vergesst die treuen Todten nicht! Vom Thurme herab wehte eine riesiggroße blauweiße Flagge.
Wie mit einem Zauberschlag hatte sich über Nacht der Ort in ein Festgewand gekleidet. Der frühe sonnige Sonntagsmorgen begrüsste jedes Haus in festlichem Schmuck, in farbigen Laubgewinden und Fahnen. Um 7 Uhr Morgens schon wogte es auf der Strasse von Einheimischen und Fremden. Gegen 9 Uhr zogen die Krieger von Stettberg und Cadolzhofen mit den Gemeindevertretungen auf einem geschmückten Leiterwagen in Binzwangen ein, voran die Schulkinder mit ihrem Lehrer. Letztere trugen sämtlich Kränze oder Fahnen. Um 10 Uhr begann der Gottesdienst. Unter Glockengeläute setzte sich der Festzug von der Wohnung des Bürgermeisters ab in Bewegung, an der Spitze befand sich ein treffliches Musikkorps. Im Pfarrhof hielt er, wo ich in einer kurzen Rede die Bedeutung des Festes darlegte. Vom Pfarrhofe aus ging der Festzug unter den Klängen der Musik in die Kirche vor deren Thüren Ehrenpforten gebaut waren. Die Kirche war so überfüllt, daß ich in der Sakristei meinen Platz auf dem Tisch nehmen musste und daß ich nur mit Mühe und Stoß auf die Canzel gelangen konnte. Ich predigte über den Text: Psalm 126, 3, mit dem Thema: der Herr hat Großes an uns gethan, deß’ sind wir fröhlich. Nach dem Gottesdienst ge-leitete mich der Festzug in den Pfarrhof zurück, da ich mich schnell umkleidete, und dann im Zuge an der Kirche vorüber auf den freien Platz vor dem Meyerschen Gasthause marschierte. Dort wurde die Nationalhymne7 angestimmt, worauf ich eine Rede hielt, welche mit einem Hoch auf den König, den deutschen Kaiser, das deutsche Vaterland, das tapfere Heer und auf die Pfarrgemeinde schloß.
Nunmehr wäre meine Mission zu Ende gewesen und es war auch mein längst gefasster Vorsatz, mich jetzt in meine Häuslichkeit zurückzuziehen für die weiteren nicht kirchlichen Festlichkeiten. Allein der hiesige Bürgermeister okkupierte mein Wohnzimmer so lange, bis ich seinem Andringen Raum gab und ihm zum Festmahle folgte. Dasselbe war in einem Salon des Meyer’schen Wirtshauses serviert. Der Salon selbst war geschmackvoll dekoriert und an langen weißgedeckten Tafeln saßen die Festtheilnehmer neben den Kriegern in schmucker Uniform. Ich muß schon gestehen, daß ich mir es nach der aufregenden Arbeit trefflich schmecken ließ; dazu spielte die Musik, meine liebste Muse, gar schöne Weisen und auch das edle Gewächs des Weinstocks fehlte nicht. (…) Unter heiteren Gesprächen und Toasten mochten einige Stunden vergangen seyn, als zum Aufbruch nach den Kammerer’schen Keller geblasen wurde. Dort entwickelte sich ein wahres Volksfest. Abwechselnd mit der Musik trug der Männergesangverein von Mkt. Bergel patriotische Gesänge vor. Kein Mißton trübte u. störte die allgemeine Heiterkeit. Es ging alles ehrbar zu. Jedermann war erfreut und befriedigt von dem wohlgelungenen Feste. Ich selber schied mit großer Befriedigung von ihm.
In der fränkischen Zeitung erschien später folgender öffentlicher Dank:
 
Wir unterzeichneter Krieger fühlen uns verpflichtet, unserer schätzbaren Pfarrgemeinde den herzlichsten Dank auszusprechen für die gelungene und erhebende Feyerlichkeit, welche uns zu Ehren in Binzwangen am 6. August veranstaltet wurde. Namentlich danken wir dem Herrn Pfarrer Winnerling für die treffliche, ergreifende Festpredigt und für die beiden Ansprachen, sowie sämtlichen Bürgermeistern und Verwaltungsmitgliedern für ihre persönliche Betheiligung. Ferner den beiden Herrn Lehrer Kühn und Meyer für ihre Mitwirkung und schönen Gesängen. Dank sey auch gesagt der Frau Pfarrer Winnerling von Binzwangen für ihre große Mühe bei Ausschmückung der Kirche. Ebenso sey Dank allen Jungfrauen, welche sich bei der Dekoration betheiligten, besonders den Stettbergern für die kunstreiche Schmückung des Festwagens. Dank auch den Sängern von Mkt Bergel. Möge der liebe Gott es allen mit seinem reichen Segen vergelten u unserm threuen Vaterland für immer Frieden und Ruhe schenken!
Die sämtlichen Krieger der Pfarrei Binzwang und Stettberg.«
 
»Nach langer Zeit war es mir wieder einmal behaglich in dem Kreise meiner Pfarrkinder. Die finstern Regenwolkengesichter meiner erklärtesten Widersacher hatten sich aufgeklärt und strahlten im heitersten Sonnenschein. Ich konnte es ihnen jetzt anmerken, wie sehr sie mit mir jetzt zufrieden waren. Und sie sind es auch geblieben bis auf den heutigen Tag. Ich bin doch Sieger geblieben und habe das Feld behalten. Mit dem Worte Gottes in der Hand, dieser mächtigen Wehr und Waffe, habe ich ihren starren Sinn zu brechen gewußt. Die früher meine Kirche mieden und an den Sonntagen den Kirchenweg in andere Gemeinden einschlugen, diese fehlten jetzt an keinem Sonntag auf ihrem Platz, diese folgen meinen Spuren, wohin ich gehe. Meine Blicke begegnen jetzt im Gotteshause keinen grimmigen Gesichtern mehr, sondern zufriedenen Mienen, die mir freundlich zunicken, wenn ich auf die Kanzel trete.«
Das fruchtbare Jahr 1872
 
»Das Jahr 1872 war ein ungemein fruchtbares Jahr. Der Verlauf des Frühlings war der Entfaltung der Saaten ein sehr günstiger. Es gab häufige warme Niederschläge, so daß die ausgewinterten Kornfelder sogar üppig emporwuchsen. Mai und Juni folgte ein Gewitter dem andern. Es verging fast kein Tag, an welchem es nicht blitzte und donnerte. Aber auch große Wassergüsse erfolgten. Die Altmühl trat im Mai 3 mal aus, so daß in der Gunzenhauser Gegend das stehende Heu verfaulte und verdarb. In Böhmen thaten gräuliche Wolkenbrüche entsetzlichen Schaden. Die ausgetretenen Wasserfluthen rissen ganze Ortenschaften weg und machten die blühendsten Gefilde zur Wüsteney. Viele Hundert Menschen fanden dabei den Tod. Man las haarsträubende Berichte in den Zeitungen. Grause Hagelwetter vernichteten hin und wieder die blühenden Fluren. Jedes Gewitter, welches aufstieg, war ein schweres. Unsere Fluren wurden, Gott sey dank, verschont. Die Heuernte war so ergiebig, daß man den Centner um 30 kr. kaufen konnte. Desgleichen war auch die Getreideernte eine reich gesegnete. Alle Feldfrüchte geriethen. Es gab Alles in Fülle. Die Scheunen fassten den Segen nicht und erwiesen sich alle als zu klein. Und gleichwohl herrschte bei alldem Gottessegen eine erschreckende Theuerung. Der Scheffel10 Weizen kostete 30 fl., der Scheffel Korn 16 fl —  der Metzen Kartoffel 1 f 30 kr; das tt Rindfleisch 30 kr, das tt Butter 27 — 24 kr. Auf den Märkten setzte es deshalb Unruhen. Die Bauern waren die Herrn Bauern geworden, fuhren in Kutschen und kleideten sich in Samt und Seide.«
Das Leben in Binzwangen
 
»Trotz der erbitterten Streitigkeiten gefiel es mir dennoch in Binzwangen. Manches erinnerte mich an meine Heimat. Die schönen rauschenden Wälder mit ihren mächtigen Tannen, die Stare, welche mir vor meinem Schlafgemach den frühen Morgengruß zubrachten, die grünen Wiesen mit ihrem Blumenteppich, die balsamischen Lüfte, welche den aromatisch würzigen Waldduft mir entgegentrugen. Ein geräumiger Hofraum, in welchem 10 Holzbauern mit ihren Wagen Platz hatten, schloß das Pfarrhaus ein, an welchem ein sonniger Garten sich anschloß. Vor dem Hof dehnten sich die Gefilde aus und es war gar schön und angenehm, wenn ich in der Morgenfrühe ungeniert im Schlafrock und mit der langen Tabakspfeife die kühle Morgenluft mit gierigen Zügen genießen konnte. Gegen Norden dehnte sich ein waldiger Höhenzug aus, auf dessen Grat der Blick, trunken von der Lieblichkeit der Gegend, hinüberschweifte in den fruchtbaren Aischgrund. Da wo der waldgekrönte Höhenzug steil abfiel lag im dunklen Waldesgrün versteckt das Wildbad Burgbernheim mit seinen Gesundbrunnen. Gegen Westen schaute der Kirchturm von dem Filial Stettberg herüber und erstieg man die Anhöhe, welche zu dem zweiten Filial Cadolzhofen hinabführte, so konnte man auf selbiger 9 Kirchtürme zählen. Gegen Osten hob sich auf bewaldeter Höhe das Schloß Colmberg vom Horizont ab und wehte die Luft von jener Gegend herüber, so konnte man den schrillen Pfiff vernehmen, wenn das Dampfroß in den Eisenbahnhof Oberdachstetten ein- oder auslief.
Auch mit den Erträgnissen der Pfarrei konnte ich zufrieden sein. Die Pachtgüter warfen jährlich 1000 f und darüber ab. Die Leichen wurden reichlich honoriert mit 8–12 fl, ich hatte Fälle, da ich für eine Leiche 25 fl und darüber erhielt. Auch an Gaben mangelte es nicht. Im Jahre 1876 habe ich verzeichnet 494 Stück Küchlein, 318 Wecke, 39 Laib Brot, 72 Maß Milch, 115 lb Fleisch, 148 Würste, 1 Ztr. Mehl, 9 Maß Wein und sonstiges an Reis, Kaffee und Zucker. Im Jahre 1872 erhielten die Geistlichen Alterszulagen, 1875 wurde die Kongrua der Pfarreien auf 900 f. erhöht. In Folge dessen stieg meine Jahreseinnahme auf 2200–2400 fl.
Diesen Annehmlichkeiten ist es zuzuschreiben, daß ich auf der Stelle Binzwangen blieb, obwohl ich viel zu kämpfen hatte mit den unartigen und argen Menschen und obwohl die Pastorierung der Pfarrei mit ihren 2 Filialen und ihren 3 Kirchen eine sehr beschwerliche war. Ich machte alle Filialgänge im Sommer und Winter, bei Regen und Schnee zu Fuß. Ich bin der erste Geistliche von Binzwangen, der sich keine Dienstpferde hält, obwohl mir jetzt die Last dieser Filialstelle zu schwer wird. Im Jahre 1878 übernahm ich auch noch die Verwesung der Nachbarspfarrei Geslau, weil sich kein anderer Pfarrer dazu finden lassen wollte. Es war keine Seltenheit, daß ich an manchem Tage 3 und 4 Predigten zu halten hatte und daß ich neben der geistigen Arbeit oftmals 3 Stunden Wegs zu Fuß wandern mußte. Das Merkwürdige dabei war, daß ich mich bei 57 Lebensjahren ganz jugendlich frisch und kräftig fühlte und aller Anstrengung spottete. Es war mir eine wahre Ergötzung, als ein wilder Sturmwind heulte und ich in einer Winternacht von einer Leiche in Geslau heimkehrte. Je mehr er mir um die Ohren pfiff, desto mehr rief ich lachend dem zornigen Aeolus zu: blas, blas, blas!«
»Familienereignisse«
 
»Noch einmal sollte meine Familie sich um ein Glied mehren. Zu den 5 Oberfranken, 4 Unterfranken, zu welchen deutschen Stämmen meine bisherigen Kinder zählten, ward noch ein Mittelfranke hinzugetan. Denn am Sonntag, den 3. August 1873 ward mein zehntes Kind Nachts um 11 Uhr zur Welt geboren und von mir Julia getauft. Wie dem Erzvater Jacob sein im Alter geborener Sohn, Josef, sein Liebling gewesen ist, so übertrug sich meine ganze Liebe auch auf diesen Spätling. Nach Gottes Rat und Willen sollte dieses Kind den Ersatz bilden für den späteren schmerzlichen Verlust des kleinen Lorchens. Möge des himmlischen Vaters Auge, des Hüters Israel, der nicht schläft noch schlummert, über ihm wachen und es behüten auf allen seinen Wegen!
Ich sagte, daß das kleine Julchen, den Ersatz bilden sollte für den Verlust Lorchens. Denn als das Jahr 1877 sich zu Ende neigte, hat der Tod in den blühenden Kranz meiner Kinder eine schmerzliche Lücke gerissen. Zu den mancherlei Anfechtungen, welche ich seit Jahren zu bestehen hatte, sollte sich noch eine Todesanfechtung gesellen. Am Freitag, den 14. Dezember 1877, Morgens um 4 Uhr entschlief zu einem besseren Erwachen Isabella Wilhelmine Babette Eleonore Winnerling nach 6 tägigem schweren Leiden. Acht Tage zuvor, ehe sie sich zu ihrem Todesleiden niederlegte, war sie mit ihren Altersgenossen nach Stettberg zum Konfirmanden-Unterricht gegangen.
Auf dem Weg dorthin hatte sie sich verkältet und es kam bei ihr die Diphteritis zu heftigem Ausbruch. Diese gefährliche Krankheit ging zwar glücklich vorüber. Aber eine Lungenentzündung schloß sich ihr an. Dieser konnte ihre kleine Kraft nicht mehr Widerstand leisten. Mit Engelsgeduld ertrug sie die rasenden Schmerzen, ergab sie sich in ihres himmlischen Vaters Willen. In ihrem Todesahnen hatte sie sich zu einem seligen Hingang vorbereitet, indem sie ihren Taufbund noch lernte, ehe sie sich zum Sterben niederlegte. Denn in den kommenden österlichen Tagen sollte sie eingesegnet werden am Tage der Konfirmation, welchem sie mit Freuden entgegensah. Vom Donnerstag auf den Freitag zeigten sich an ihr die Merkmale der nahen Auflösung. Mit leisen, sanften Schritten trat der Todesengel an ihr Schmerzenslager. Ohne Kampf entfloh ihre reine Seele. Wie ein fächelnder Windhauch zog’s durch das Sterbegemach. Über die entseelte Leibeshülle sprach ich den Segen. Am Sonntag, den 16. Dezember ward sie zur Erde bestattet, laut beklagt von der ganzen Pfarrgemeinde, welche sich zahlreich zum Leichenbegängnis eingefunden hatte. Pfarrer und Senior Omeis von Obersulzbach hielt in der Kirche dahier vor dem Sarge die Leichenrede. Als er den Lebenslauf der Entschlafenen vorlas und an die Worte kam: „Wer von Euch hätte nicht das Pfarrlorle gekannt mit den frischroten Wangen und mit dem freundlich lächelnden Angesicht?“ — Da brach die ganze Versammlung in lautes Weinen aus.
Die selig Heimgegangene stand in dem Blütenalter von 13 Jahren. „Aufersteh’n, ja, aufersteh’n wirst Du mein Staub nach kurzer Ruh.“ Dieses Lied, welches sie so oft mit ihrer hellen Stimme an den Gräbern gesungen hatte, ward auch an ihrem Grabhügel gesungen. Sie ruht am südlichen Ende des neuen Kirchhofs.12 Ein eisernes schwarzes Kreuz mit dem Bilde des Gekreuzigten bezeichnet ihre Schlummerstätte.«
»Die Schreckensnacht«
 
»Einmal wäre es mir doch bald recht schlimm gegangen und ich hätte beinahe mit dem Freund Hain Bekanntschaft gemacht. Es war am 3. Adventsonntag 1878, als ich um 5 Uhr Abends von Geslau den Heimweg antrat. Der Schnee lag tief, die Wege waren verschneit. In der Hohlgasse bei Stettberg kam ich vom Wege ab und geriet in tiefen Schnee. Ich wendete mich dem Ettenbach zu, welcher die Mühle bei Stettberg trieb, um die Mühle zu erreichen, um dann die Straße zu gewinnen. Aber ich verfehlte die Mühle, weil man vor lauter Schnee kein Haus sehen konnte. Ich stürzte dreimal in tiefe Gräben, aus denen ich mich mit Mühe wieder herausarbeitete. Nach langem Umhertappen stand ich vor einer Schneefläche, durch welche sich kaum sichtbar ein brauner Streifen zog. Ich überlegte, ob ich zum Sprung ansetzen sollte. Denn ich hielt diesen Streifen für einen Graben. Aber mein guter Geist warnte mich. Ich kehrte um und fand einen Steg, der über den Streifen führte. Es war dieses der Tiefenbach mit seinen Schlünden. Hätte ich den Sprung gewagt, ich wäre dem sicheren Tod in die kalten Arme gesprungen. Dieser Gefahr war ich glücklich entronnen. Aber ich stand ratlos in einer pfadlosen Schneewüste. Ich wußte nicht, wo ich mich befand. Totenstille überall, kein Glockenton, kein Hundegebell. Ich fühlte, wie meine Kräfte anfiengen zu schwinden. Denn stundenlang irrte ich schon in dem tiefen Schnee umher. Erschöpft setzte ich mich bei einem Baume nieder, um ein wenig zu ruhen. Aber die Todesangst trieb mich gleich wieder auf. Ich watete durch den Schnee weiter bergauf, bergab. Nirgends ein Pfad. Ich fing an zu zweifeln, die Meinigen wiederzusehen, heimzukommen. Ich beschloß, so lange fortzuwandern, bis ich niedersinken würde, um nimmer aufzustehen. „Laß mich doch nicht, Du barmherziger Gott, sterben in meinen Sünden“, stöhnte ich, „zeige mir doch einen Pfad, eine Türe, ein Licht!“ Und siehe da, mit einem Male spürte ich unter meinen Füßen einen festen Pfad. Ängstlich ihn wieder verlieren zu können, schritt ich langsam vorwärts. Wer beschreibt meine Freude, als ich endlich auf einer Straße stand mit Alleebäumen! Es mußte meinem Vermuten nach die Straße von Stettberg nach Binzwangen sein. Und sie war es auch. Ich war gerettet. Aber wie sah ich aus, als ich nach Hause kam! Mein Gesicht war weißer wie der Schnee, in dem meine Kleider eingehüllt waren. Es war 8 1/2 Uhr als ich meine Wohnung wieder erreichte. 3 1/2 Stunden war ich umhergeirrt.«
»Amtsfreunden und -leiden«
 
»Wenngleich mein Einkommen in Binzwangen, mit dem von Buchbrunn verglichen, sich um das doppelte gesteigert hatte, so wollte es doch nicht zu langen, um die Ausgaben zu decken. Wie in dem bayerischen Staatshaushalt, fand sich alljährlich ein nicht unbedeutendes Defizit vor, welches aus meinem ohnehin geringen Privatvermögen gedeckt werden mußte. Es war kein Wunder das. Die Kinder kosteten viel Geld. Christian erlernte die Handlung. August und Ferdinand besuchten die Lateinschule, Pauline die Diakonissen-Anstalt in Neuendettelsau. Beinahe 2 Jahre wohnte die Hälfte der Familie in Ansbach in Miete, um den Kindern die dortigen Schulen und deren Besuch zu ermöglichen. Dieses alles kostete rasend viel Geld. Ich trachtete daher, womöglichst in die Nähe einer Stadt zu kommen und die abgelegene Lage von Binzwangen ward mir oft unerträglich. Ich vermißte schmerzlich die Stadt Kitzingen und das schöne Culmbach, denen ich früher so nahe war. Auf gesellschaftliches Leben mußte ich im Winter gänzlich verzichten. Da der Pfarrhof am Ende des Orts lag, sahen wir an manchem Wintertag keinen seligen Menschen, blos unsere Hühner und Gänse und den trüben bleifarbenen Himmel. Wenn ich in den Sommertagen müde und matt von meinen Filialgängen nach Hause kam, dann war das dichte Blätterdach des Kastanienbaums, den ich vor meine Hoftüre gepflanzt hatte, mein Tusculum, unter dem ich saß wie der Prophet Elias unter seinem Wacholder. Mit Zagen sah ich oft zum Fenster hinaus, wenn es an den Sonntagsmorgen regnete und stürmte und mich anschickte, meinen Filialgang anzutreten. Wenn man keinen Hund hinausjagen mochte in den Sturm und Graus, für mich war es gut genug; ich mußte fort, wenn die Glocken zur Kirche riefen. Da erblickte ich vor mir und hinter mir keinen Wandersmann. „Ich war allein auf weiter Flur.“ Alle diese Mühen und Schrecknisse vergaß ich jedoch, wenn ein schöner Sonntagsmorgen mich auf meinen Filialwegen geleitete, wenn von hüben und drüben die Kirchenglocken mir den Morgengruß zuläuteten und jeder Strauch am Weg mir predigte: „Dies ist der Tag des Herrn.“ Und wenn die Christenmenge aus der vollen Kirche strömte und in dichten Haufen heimwärts zog, dann schweifte mein Blick freudig über die Wege und Stege hin, wo sie hinwallten die Kirchengänger wie eine dunkle Wolke und meine Brust hob sich stolz im Vollbewusstsein des köstlichen Predigtamtes: „Ich bin ein König.“
An einem Pfingstfeste mußte ich einmal 8 Predigten halten, weil 3 Leichen zu bestatten waren. Als ich die letzte und achte Rede hinter mir hatte, sagte ein Mann von einer andern Pfarrei zu einem hiesigen Bürger, wie es nur möglich sei, daß ich diese vielen Reden aus meinem Kopfe nehmen könnte. Aber der Gefragte erwiderte: gib ihm einen Karolin16, und er reißt dir noch eine Predigt herunter.
Eines Abends befand ich mich in einer Wirtschaft in Colmberg. An derselben Tafel, da ich saß, erzählte ein mir fremder Mann von einem Leichenbegängnis in Geslau. Seine Frau habe demselben beigewohnt. Ein ihr ganz fremder Geistlicher habe die Leiche gehalten und sei an das Grab getreten. Der habe einen Bart getragen, desgleichen sie noch niemals an einem Pfarrer gesehen hätte. Sie habe bei sich gedacht: „Ich will nur sehen, was da wird.“ Der Geistliche habe nun zuerst an seinem weißen Überschläglein ein wenig gezupft, sodann an seinen weißen Handmanschetten, hätte danach seine Schnurren gedreht, dann aber sei es losgegangen und ein Redestrom sei aus seinem Munde geflossen, wie sie einen ähnlichen noch nie vernommen habe. Ich mußte hell auflachen über diese Erzählung und indem ich mich zu dem Erzähler wendete, sagte ich: „Ich glaube, ich bin dieser Geistliche gewesen.“«
Die Vision von Stettberg im Jahre 1629
 
»Im Pfarrbuch von Binzwangen wird von einem Geistlichen, Brigel von Stettberg, also von einem meiner Amtsvorfahren erzählt, daß ihn zu drei Malen ein Engel Gottes erschienen sei. Zuerst in der Gestalt eines schönen Kindes, schneeweiß angetan, auf dem Heimweg von Burgbernheim, sodann vor seinem Bette in der Nacht. Auf die Frage des Pfarrers, wie sein Name sei, habe der Engel geantwortet, er sei der Engel Raphael, der vor Gottes Thron steht. Er, der Pfarrer, solle es der Obrigkeit ansagen, daß sie solle die groben Sünden der Leute abstellen, über welche der Allerhöchste sehr ergrimmt sei. Wenn dieses nicht geschehe, so werde er mit großer Pestilenz kommen und mit greulichen Landplagen. Es wurden diese Visionen, sagt das Buch, von dem Pfarrer und von dem weltlichen Amt in Colmberg an die hohe Regierung einberichtet.«
»Das harte Jahr 1882«
»In einer Brochure, betitelt: „Der Untergang der Erde in den Jahren 1880–85“, sagt ein Sternenkundiger, daß in diesen Jahren eine außerordentliche Constellation der großen Planeten Uranus, Jupiter, Neptun und Saturnus zur Sonne stattfinde. Nur alle 600 Jahre soll sich dieses Phänomen ereignen und jedesmal sollen außergewöhnliche Ereignisse damit in Verbindung stehen, weil diese Planeten in Conjunction mit der Sonne nicht verfehlten, auf die Erde eine besondere Einwirkung zu üben. Und in der That sind Naturerscheinungen hervorgetreten, welche nicht alltäglich genannt zu werden verdienen. Schon das Jahr 1880 begann damit. Gegen Martini1 1879 trat eine strenge Kälte ein, welche anhielt und im steten Wachsen in das Jahr 1880 hinübertrat, wo sie sich bis zu 25 Grad Réaumur steigerte. Sie richtete eine furchtbare Verwüstung an der Baumwelt an, nicht nur in hiesiger Gegend, sondern an allen Orten Deutschlands. 9/10 der Obstbäume giengen zu Grunde. Zwei volle Jahre hielt das Sterben der Obstbäume an. Ganze Alleen und Gärten starben aus 48 Bäume, unter ihnen der Nestor derselben, der große Dichtbelaubte und immer fruchtreiche Birnbaum im Pfarrgarten, den ich heute noch als guten Freund betrauere, fielen im Pfarrhof und im Pfarrgarten unter der Axt, weil sie im Sommer wie dürres besenreißig dastanden.«
»[1882] zeigte sich in seiner äußern Erscheinung schon als ein verhängnisvolles für alle Erdenbewohner. Auf einen Winter ohne Frost und Schnee folgte ein Sommer ohne Sonnenschein und Wärme. Ein ewiger Regen rieselte aus dem bleifarbenen Himmel. Die Berge waren ständig in ein nasses Regentuch eingebunden. Der Ofen hatte im ganzen Sommer keine Ferien. Selten hob sich die Temperatur auf 12° Wärme3 und wenn sich einmal ein warmer Sonnenstrahl auf die erstarrte Erde verirrte, dann zeitigte er ein schweres Unwetter mit verderblichem Hagelschlag. Die Rothenburger Gegend, der Windsheimer Gau ward hart davon betroffen; noch im September hauste des Nachts von 1/2 10 Uhr bis 3 Uhr Morgens ein entsetzliches Ungewitter mit einem Hagelschauer von eiergroßen Eisklumpen. Das ganze Firmament schien in jener grausen Nacht ein Feuermeer zu sein. Von der frühesten Zeit her hat man von Hagelschlägen während der Nacht nichts gewußt. Ich wenigstens kann mich eines solchen seit 50 Jahren nicht entsinnen. In unserer modesüchtigen, fortschrittlichen Zeit ist es nun auch Mode geworden, freilich in entsetzenerregendem Sarkasmus und in trauriger Ironie, daß in der Mitternachtsstunde ein Hagelschauer an die Fensterscheiben trommelt und den Schläfer entsetzt vom nächtlichen Lager scheucht.
Mit unsäglicher Mühe konnte man von dem wassersüchtigen Sommer die Feldfrüchte bergen und einheimsen. Vieles verdarb im Regen und das liebe Getreide wuchs aus. Hochwasser und Wassergefahr war ein ständiger Artikel in den Zeitungen. Zumal zur Zeit der Ernte regnete es ununterbrochen wochenlang, also daß Zagen alle Herzen ergriff. Dennoch florierten die Lustbarkeiten. Die fortschrittliche, glaubenslose und verlotterte Tagespresse hatte kein Wort, um in dieser schweren Zeit ihre Abonnenten zur Besinnung zu bringen, sie aus dem Sinnentaumel aufzuschrecken und zu dem hinzuweisen, der Sternen, Wolken, Winden gibt Wege, Lauf und Bahn. Selbst die Mahnungen der Geistlichen in den Sonntagspredigten fanden nur bei wenigen Eingang. Aber merkwürdig muß es erscheinen, daß bei diesem ständig naßkaltem Wetter der Gesundheitszustand der Bevölkerung dennoch ein sehr günstiger war. Vom 1. Januar bis heute den 31. Oktober ist in der untern Pfarrei kein Erwachsener gestorben. Infolge dieses Umstandes erleidet dieses Jahr mein Einkommen einen Ausfall von 400 M.
Heute regnet es schon wieder den ganzen langen Tag. Binzwangen gleicht einer Insel. Das Hochwasser steht diesmal höher, als wie es jemals stand. Was wird dieses Jahr, ehe es sich zu Ende neigt, noch alles in seinem dunklen Schoß tragen?«
»Möge der reiche Gott und Herr gnädig walten im nächstfolgenden Jahre. Denn das Jahr neigt sich seinem Ende zu und immer noch gießt unendlicher Regen herab. In jeder Woche stand Binzwangen zum mindesten einmal unter Wasser. Ende November steigerten sich die Hochgewässer zu bedenklicher Höhe. An der Main- und Rheinniederung standen fast alle Orte tief unter Wasser. Bis an das Dach der Häuser stieg die Flut. Etwashausen bei Kitzingen gieng fast unter. Selbst in Ansbach lief in manchen Strassen das Wasser durch die Fenster des untern Stockwerks in die Häuser. Die Nässe fängt an, beschwerlich zu werden. Nirgends ist mehr ein trockener Fleck zu finden. Felder und Wiesen gehen in Faulnis über. In den Häusern schimmelt alles an und verdirbt und in den Kellern kann man täglich eine Gondelfahrt machen. Auch die Pastorierung der Pfarrei erlitt durch das herrschende Unwetter manchen Nachteil. An manchem Mittwoch und Sonntag musste der Gottesdienst in Stettberg eingestellt werden, weil es unmöglich war, draußen zu Wagen und zu Fuß fortzukommen bei dem heillosen Wetter. Am Christfeste fiel ein hoher Schnee, welchem Thauwetter und ein ergiebiger Regen folgte und ein fürchterliches Hochwasser, welches besonders in der Gunsenhausener Gegend enorme Verwüsthungen anrichtete. Zu Neujahr 1883 regnete es 2 Tage und Nächte ununterbrochen also daß alle Wege und Stege unter Wasser gesetzt waren.4 Wahrhaftes Entsetzen ergriff alle Menschen Herzen bei dem grauhenhaften Anblick der ausgetretenen wildtobenden Fluthen.«
»Als sich dieses ominöse Jahr 1882 zu Ende neigte, als der Jahresabend sich trüb und düster ohne ein Sternlein am pechschwarzen Himmel herabgesenkt hatte, als meine Neujahrspredigt geschrieben und wohl gelernt vor mir lag, mit welcher ich am Neujahrsmorgen vor meine Gemeinde treten wollte, saß ich sinnend in der tiefschweigenden Nacht lange bei der Lampe düsterem Schein. Die Neige des Punsches war ausgeschlürft, die Pfeife Tabak ausgebrannt. Alle Lichter waren im Dorfe bereits erloschen und tiefe Grabesstille herrschte ringsum. Nur draußen vor den Fenstern, vor denen die rabenschwarze Nacht lag, wisperte es leise wie mit Geistesstimmen. Es waren die Regentropfen, die treuen Begleiter des entschwindenden Jahres. Sie durften auch nicht fehlen, als des Jahres letzte Stunde schlug. Von Geslau herüber schallten die Kirchenglocken. Sie bekundeten, daß ein neues Jahr der alten Welt wiederum angebrochen sei. Mir ward zu Mute, als läuteten sie die Menschheit zu Grabe, zum Wassergrabe wie weiland bei der Sintflut. Ich konnte den traurigen Gedanken nicht mehr ertragen und begab mich zur Ruhe, um mit Gott gerüstet zu sein, wenn ich am Jahresmorgen den alten Lauf beginnen muß.«
Die Auswanderung der Kinder nach Amerika
»Auch mir und meiner Familie hat dieses Jahr [1882] kein freundliches Gesicht gezeigt. Das Haus Henning in München ist zusammengekracht. In 2 1/2 Jahren hat Fritz Henning in seiner Metallschablonenfabrik 3500 M; – soviel betrug die Mitgift der Anna – verbraucht. Mit den Trümmern aus dem Schiffbruch, 500 Mark, entwich er mit Zurücklassung seiner Frau und einer Wechselschuld nach Nordamerika. Der spes ultima5 aller Schiffbrüchigen, um dort das Glück zu suchen, welches ihn in seinem Vaterland floh. Ende August kam Anna hier an, um ihrem Gatten zu folgen. Was ihr aus dem Krach geblieben war, hatte sie veräußert, um mit Hilfe des daraus gelösten Geldes (600–700 Mark) den weiten Weg bis zur Westgrenze der Union zu wagen. Möge es ihr gelingen und möge sie in dem Lande der Freiheit und der Arbeit das finden, welches sie in ihrem Vaterland nicht fand. Vielen Kummer und schwere Sorgen hat uns diese Geschichte gemacht. Die schöne Ausfertigung Annas ist durch die Schuld ihres Mannes verschleudert worden, also daß man darüber blutige Tränen weinen möchte. (…)«
»Es war im Monat August 1882 als Anna nach dreitägigem Aufenthalt im elterlichen Hause ihre Reise nach Nordamerika antrat. Ihr Ziel war der fruchtbare Landstrich im Westen der vereinigten Staaten, genannt Colorado. Zunächst der Stadt Denver hat sie mit ihrem Mann eine kleine Farm gemietet, wo es ihr, brieflichen Nachrichten zufolge, gut geht und wo sie sich glücklich fühlt, dem elenden Leben in München entflohen zu sein.
Am 5. August folgte ihr Christian nach, um in dem verheißungsvollen Lande sein Glück zu suchen, also gerade ein Jahr später. Am 24. August 1883 landete er in New York. Er nahm eine vollständige Ausstaffierung mit sich im Wert von 700 M, wozu ich noch ein Reisegeld von 400 M fügte. Was er in der neuen Welt anzufangen gedenkt, liegt noch im Dunkeln. Hoffen wir das Beste. Zur Sicherstellung mußte er eine Urkunde ausstellen, daß er seinen Voraus zu 2000 M. bereits erhalten und nichts weiteres mehr zu beanspruchen hat. Nach seiner letzten Nachricht war er in Lankester in einer Brauerei. Da er nichts mehr von sich hören läßt, wird er bereits seinem Geschick verfallen sein.«
»Die letzten Tage
Ging, Gang,
Pfaff ist krank,
liegt er auf der Ofenbank.
Dieses Schelmenlied aus Kindesmund, ist an mir in diesen Tagen Wahrheit geworden. Ich liege zwar nicht auf der Ofenbank, sondern auf weichem Pfühl. Aber doch möchte ich der guten Ofenbank zur Erinnerung ein Räumlein gönnen in diesen Blättern. Gibt es doch nichts gemütlicheres als dieses veraltete Schreinstück, das in keinem deutschen Hause fehlen sollte. Wenn man an rauhen Winterabenden den Tisch zur Seite des wärmenden Ofens an die Ofenbank rückt und das Feuer im Ofen knistert mit seiner behaglichen Wärme, während vor den Fenstern die schwarze Winternacht liegt und der Schnee leise daran niederträufelt, gibt es ein gemütlicheres Bild als das?
Nun liege ich zwar nicht auf der Ofenbank, fühle mich aber doch sterbenskrank. Ich bin so entkräftet, daß ich kaum einen Schritt gehen kann. Und auf der Kanzel weiß ich oft nicht, ob ich meine Predigt zu Ende führen und ob sie die letzte sein werde, daß ich den Hirtenstab niederlegen werde müssen, den ich nun 37 Jahre führte.
Wenn ich meine gegenwärtige Hinfälligkeit mit der Zeit vergleiche, da ich vor 15 Jahren mein Amt hier aufnahm, frisch wie ein Hirsch, trotzend allen Mühen des Tages und der Elemente, wenn sie stürmten und brausten, so muß ich schmerzlich bewegt ausrufen: „seht, welch ein Mensch!“
Wie ist denn über den Starken ein noch Stärkerer gekommen? Dem liegt eine widernatürliche und eine natürliche Ursache zu Grunde.
Eine widernatürliche Ursache
Es mögen immerhin 8 Jahre sein, als ich eines Nachmittags die Straße nach Colmberg dahinschlenderte. Zu meinen Füßen sah ich ein leinenes Päckchen auf der Straße liegen. Neugierig hob ich es auf, um seinen Inhalt zu prüfen. Haare, Fingernägel und noch anderer menschlicher Unrat fanden sich in ihm. Mit Entsetzen warf ich es von mir und zermalmte es mit den Füßen. Denn es war mir, als wenn aus diesem verhängnisvollen Päckchen mich ein vergifteter Odem angeweht hätte, als wenn ein böser Zauber über mich gekommen wäre. Wie ist dieses möglich, seitdem durch Christi Erlösung des Teufels Macht gebrochen ist? Nun, noch ist der Satan nicht geworfen in den feu’rigen Pfuhl. (Offenb. 20, 10)8 Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, singt Dr. Luther9. Er hat in seinem Dienst ein groß Gefolge  von solchen, welche seine finstern Künste treiben und Unheil stiften. Nicht nur die Heilige Schrift bezeugt das, auch in den Dichtern, denen die Sehergabe verliehen ist wie den alten Propheten, klingt es heraus aus ihren Tragödien.
Wie dem nun auch sein mag, soviel ist sicher, daß von dem Tage an, als ich den Teufelsdr. aufhob, meine Kräfte stetig abnahmen bis ich das Schattenbild geworden bin von heute.
Aber auch natürliche Ursachen liegen meinem Siechtum zu Grunde.
In erster Reihe, sind es die aufreibenden Mühen, welche die Pastorierung der 3 Kirchengemeinden Binzwangen, Stettberg und Cadolzhofen mit sich bringen. An vielen Sonntagen mußte ich in 3 Kirchen fungieren, machte sämtliche Filialgänge dahin zu Fuß, sodaß mein Hemde an meinem Leibe 10 mal naß und wieder trocken wurde.
Sodann welch’ heftige Kämpfe hatte ich mit den unartigen und argen Menschen in meiner Gemeinde zu bestehen! Wenn sie die Macht gehabt hätten wie den Willen, so hätten sie mich um Amt und Brot gebracht. Bei meinen Behörden fand ich keine Hilfe, im Gegenteil wurde ich von ihnen wie ein Hund mit Füßen getreten. Zweimal streifte ich an einer Versetzung an. Auch in meinem Hause ging es nicht ohne heftigen Sturm ab und ich war ein paarmal in Gefahr, wie ein morscher Baum im Wald zu fallen. Wie können solche widrige Geschicke vorübergehen, ohne nicht tiefe Einschnitte in das Mark des Lebens zu hinterlassen?
Und die 3 ältesten Kinder, welchen Kummer haben sie über das elterliche Haus gebracht! Welch schnöder Undank, welche Gemeinheit der Gesinnung, welcher nicht verzeihliche Leichtsinn spiegelte sich auf der Bildfläche ihres Lebens! Alles ist bei ihnen verloren gegangen, Glaube, Tugend, Gut und Ehre! Doch ich will schweigen und den Mantel der Vergessenheit darüberbreiten.
Müssen solch aufregende Geschichten nicht schwerwiegend genug sein, um eine rüstige Manneskraft vollständig zu brechen? — Hüter, ist die Nacht schier hin? Ist das höllische Zauberwerk noch nicht an mir zu Ende? — Das ist Deine Sache, Herr Jesus, das gehet Dich an, wenn Du Dich von Deinem Stuhl willst stoßen lassen. (Dr. Luther, Ausspruch)
Bergab geht es schnell. Wie bald werde ich unten am Ende meiner Pilgerschaft angekommen sein! In diesem Jahre erreichte ich das 66te. Es sind die 60 Jahre böse Jahre. Als mein Vater 66 oder 67 Jahre alt war, befiel ihn eine schwere Krankheit. Er würde nun sterben müssen, behauptete er, weil seinen Vater in diesen Lebensjahren auch der Tod ereilt habe. Der gute Mann hatte jedoch zu seinem Vorteil verrechnet. Er ward wieder gesund und ward fast 82 Jahre alt. Ich bin der Enkel und an mir wird das Geschick sich erfüllen.
Ich hatte freilich gerne länger gelebt. Mein liebster Wunsch war immer der, es möchte mir vergönnt sein, bis zu meinem 81. Jahre noch die Kanzel zu besteigen. Das wird wohl ein frommer Wunsch bleiben. Nun, sollte in diesem Jahre der Ruf an mich ergehen, bestelle Dein Haus, denn Du mußt sterben! Nun, wie’s Gott gefällt; ich bin bereit.  Viel schönes und herrliches habe ich erlebt. Noch viel schöneres und herrlicheres hoffe ich nach dem Todesschlummer in den Lichtgefilden des Äthers zu erleben. Denn schöner aufzublüh’n werd’ ich gesät. (Kloppstock)
Und nun noch mein letzter Wille
wenn ich zu meinen Vätern versammelt werde.
Meine Hinterbliebenen sollen mich nicht in den Binzwanger Kirchhof beisetzen lassen, in diesen schaurigen, kalten und morastigen Sumpf. Mein treuer Gefährte im Leben, mein Leib, er hat 66 Jahre alles Leid und jede Freud’ mit mir, mit meinem Geist, dem unvergänglichen Ich der Persönlichkeit, geteilt. Ich möchte ihm dafür ein gutes, trockenes Räumlein gönnen. Sie sollen mich auf dem Stettberger Kirchhof begraben lassen. Denn der ist zum mindesten ein menschenwürdiger Aufbewahrungsort gläubiger Christen in ihrem Todesschlummer.
An meinem Sarge soll keinerlei Rede gehalten werden, sondern eine gewöhnliche Einsegnung und zwar nur von einem Geistlichen. Es soll an meinem Grabe gesungen werden von den Schulkindern, nicht von den Lehrern, „aufersteh’n wirst Du mein Staub nach kurzer Ruh.“29 Alles Gepränge soll ferngehalten werden. Ich war in meinem Leben ein einfacher, bescheidener Mann, der sich nie hervordrängte, sondern sich immer zurückzog und anderen den Vorgang ließ. Kein Lob soll mir aus gesalbten Munde gespendet werden, denn ich nehme das schöne Bewusstsein mit in das Grab, alle meine Kräfte in des Herrn Dienst gestellt und redlich mein Amt ausgerichtet zu haben.
Ich bin zu Ende. Es wird wohl der letzte Nachtrag sein, den ich in die Familienchronik heute eingetragen habe. Der nächste Eintrag wird eine andere Handschrift zeigen und ich glaube nicht, daß ich noch einmal eine bemerkenswerte Aufzeichnung zu machen haben werde.
Den 6. Mai 1884 scr.«