20. Dezember 1914: Eine froehliche Weihnachten

„Im heiligen Namen Gottes, unseres himmlischen Vaters und Herrn, um des gesegneten Blutes Jesu willen, welches der Preis der menschlichen Erlösung gewesen, beschwören Wir Euch, die Ihr von der göttlichen Vorsehung zur Regierung der kriegsführenden Nationen bestellt seid, diesem fürchterlichen Morden, das nunmehr seit einem Jahr Europa entehrt, endlich ein Ziel zu setzen. Es ist Bruderblut, das zu Lande und zur See vergossen wird. Die schönsten Gegenden Europas, dieses Gartens der Welt, sind mit Leichen und Ruinen besät. Ihr tragt vor Gott und den Menschen die entsetzliche Verantwortung für Frieden und Krieg. Höret auf Unsere Bitte, auf die väterliche Stimme des Vikars des ewigen und höchsten Richters, dem Ihr werdet Rechenschaft ablegen müssen. Die Fülle der Reichtümer, mit denen Gott der Schöpfer die Euch unterstellten Länder ausgestattet hat, erlauben Euch gewiss die Fortsetzung des Kampfes. Aber um was für einen Preis? Darauf mögen die Tausende junger Menschenleben antworten, die alltäglich auf den Schlachtfeldern erlöschen.“

Aus Papst Benedikts XV. Exhortatio Allorché fummo chiamati (28. Juli 1915)


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzertochter
Oberfelden
Bahnst. Lehrberg Post Colmberg
Mittelfranken

Komines, 20.Dez.1914.
Werte Lina!
Ich bin noch gesund und munter, was ich auch von dir und deinen lieben Eltern noch hoffe. Ich wünsche dir und deinen l. Eltern eine fröhliche Weihnachten u. ein glückliches neues Jahr. Sei bestens gegrüßt von Gg. Probst.


Dieses ist die erste von mehreren Karten, die Georg Probst im Winter 1914/1915 aus der französischen Grenzstadt Comines nach Oberfelden schickt. In einer der nächsten Postkarten nennt er die 7 km von der Front entfernt liegende Stadt seinen „Winteraufenthalt“.

Weihnachten 1914 ist besonders wegen des Weihnachtsfriedens an Teilen der Westfront bekannt. Dabei handelt es sich um spontan unter den Soldaten in den Schützengräben ausgehandelte Waffenstillstände am 23. und 24. Dezember, denen u.a. das gemeinsame Singen von Liedern, das Austauschen von kleinen Geschenken oder das oft zitierte Fußballspiel zwischen Briten und Deutschen folgten.

Natürlich erfolgte diese eindrucksvolle Verständigung nicht überall an der Westfront und es muss davon ausgegangen werden, dass Georg Probst selbst nicht daran teilgenommen hat. Auch wiederholte sich der Weihnachtsfriede in den kommenden Jahren nicht, da die Befehlshaber solche Handlungen nun streng bestraften und die Totalisierung des Krieges weiter fortgeschritten war.

Weihnachtsfrieden IWM HU 35801Soldaten des 10. Königlich Sächsischen Infanterie-Regiments Nr. 134 und des britischen Royal Warwickshire Füsilierregiments während des Weihnachtsfriedens 1914. (Foto: Imperial War Museum)

Der britische Soldat Private Frederick W. Heath beschreibt die Ereignisse so:
„Die Nacht brach früh herein – die geisterhaften Schatten, welche die Gräben heimsuchen, kamen uns Gesellschaft zu leisten während wir an den Waffen standen. Unter einem bleichen Mond konnte man gerade noch die gräbergleiche Erhebung des Bodens erkennen, der die deutschen Gräben in 200 Yard Entfernung kennzeichnete. Das Feuer der englischen Stellung war erstorben und nur das Matschen der aufgeweichten Stiefel im schmierigen Schlamm, die geflüsterten Befehle der Offiziere und Unteroffiziere und das Ächzen des Windes durchbrach die Stille der Nacht. Der Weihnachtsabend der Soldaten war schließlich gekommen und es war weder die Zeit noch der Ort, um dankbar dafür zu sein.
Die heilige Erinnerung hielt uns in trauriger Stille. Zuhause, irgendwo in England, brannten die Feuer in wohligen Räumen und im Gedanken hörte ich das Lachen und die tausend Wiedersehensmelodien am Weihnachtsabend. Der Mantel dick mit nassem Schlamm und mit durch den Frost aufgerissenen und wunden Händen lehnte ich an der Wand des Grabens und blickte durch meine Schießscharte mit müden Augen zu den deutschen Gräben. Gedanken drängten sich in meinem Geist, aber sie hatten keinen Zusammenhang, keinen Halt. Die meisten waren von Zuhause wie ich es aus den Jahren kannte, die mich hier her gebracht haben. Ich fragte mich warum ich überhaupt so miserabel hier in den Gräben war, wo ich doch auch warm und glücklich in England hätte sein können. Diese unfreiwillige Frage war schnell beantwortet. Gibt es nicht eine Vielzahl von Häusern in England und musste sie nicht jemand instand halten? Ich dachte an ein zerstörtes Landhaus in — und war froh, dass ich in den Gräben war. Dieses Landhaus war einst das Zuhause von jemandem.
Noch immer blickend und träumend erspähten meine Augen ein Flackern in der Dunkelheit. Zu dieser Stunde war ein Licht in den feindlichen Gräben so selten, dass ich eine Nachricht davon durch unsere Stellung schickte. Ich hatte kaum ausgesprochen als entlang der deutschen Front Licht um Licht anging. Sehr nah an unseren Unterständen – so nah, dass ich hochfuhr und mein Gewehr packte – hörte ich eine Stimme. Man konnte sich bei dieser Stimme mit ihrem kehligen Ton nicht irren. Mit aufgestellten Ohren lauschte ich. Und dann drang zu unserer Stellung aus Gräben ein Gruß, den man im Krieg nur einmal hört: „Englischer Soldat! Englischer Soldat! Ein frohes Weihnachten! Ein frohes Weihnachten!“
Nach diesem Gruß folgten lebhafte Einladungen dieser rauen Stimmen: „Komm heraus, englischer Soldat! Komm heraus zu uns!“ Eine kurze Zeit waren wir vorsichtig und antworteten überhaupt nicht. Die Offiziere vermuteten eine List und befahlen den Männer still zu sein. Doch entlang unserer Stellung hörte man Männer den Weihnachtsgruß des Feindes beantworten. Wie konnten wir widerstehen, uns gegenseitig Frohe Weihnachten zu wünschen, auch wenn wir uns unmittelbar danach an die Kehle gehen würden? Also führten wir ein anhaltendes Gespräch mit den Deutschen, währenddessen wir unsere Hände einsatzbereit an den Gewehren hatten. Blut und Frieden, Feindschaft und Brüderlichkeit – das erstaunlichste Paradox des Krieges. Es begann zu dämmern – die Nacht war leichter gemacht worden durch Lieder aus den deutschen Gräben und das Pfeifen der Piccoloflöten sowie durch das Gelächter und die Weihnachtslieder in unserer Stellung. Kein einziger Schuss wurde abgegeben, lediglich zu unserer Rechten war die französische Artillerie am Werk.
Die Morgendämmerung kam und malte den Himmel in grau und rosa. Im ersten Licht sahen wir wie sich unsere Gegner unbekümmert außerhalb ihrer Gräben bewegten. Das war in der Tat mutig. Sie suchten nicht die Sicherheit ihrer Unterstände, sondern boten uns eine dreiste Einladung, auf sie zu schießen und sie mit tödlicher Sicherheit umzubringen. Aber haben wir geschossen? Natürlich nicht! Wir standen ebenfalls auf und riefen Segensgrüße zu den Deutschen. Darauf folgte die Einladung, aus unseren Gräben zu kommen und uns auf halbem Wege zu treffen.
Noch immer vorsichtig zögerten wir. Nicht so die anderen. Sie rannten in kleinen Gruppen vorwärts, ihre Hände über ihren Köpfen, und sagten, wir sollten das selbe tun. Einem solchen Aufruf konnte man nicht lange widerstehen – zudem, beschränkte sich der Mut bislang nicht auf eine einzige Seite? Einige von uns prangen auf die Brustwehr und begannen die ankommenden Deutschen zu begrüßen. Unsere Hände streckten sich aus und schlossen sich im Griff der Freundschaft. Weihnachten hatte die erbittertsten Feinde zu Freunden gemacht.
Hier gab es nicht den Wunsch zu töten, sondern nur den Wunsch einiger einfacher Soldaten (und niemand ist so einfach wie ein Soldat), dass am Weihnachtstag unter allen Umständen die Macht des Feuers aufhören sollte. Wir gaben einander Zigaretten und tauschten alle möglichen Dinge. Wir schrieben unsere Namen und Adressen auf die Feldpostkarten und tauschten sie gegen deutsche. Wir schnitten die Knöpfe von unseren Mänteln und bekamen im Austausch dafür das kaiserliche Wappen. Aber das Geschenk aller Geschenke war Christmas Pudding. Die Augen der Deutschen wurden bei seinem Anblick in hungrigem Erstaunen größer und mit dem ersten Bissen waren sie für immer unsere Freunde. Hätten wir eine ausreichende Menge Christmas Pudding gehabt, jeder Deutsche in den Gräben vor uns hätte sich ergeben.
So standen wir für eine Weile beisammen und unterhielten uns, obwohl die ganze Zeit über ein angespanntes Gefühl von Misstrauen vorhanden war, das diesen Weihnachtsfrieden ein bisschen ruinierte. Wir konnten nicht anders als uns daran zu erinnern, dass wir Feinde waren, obwohl wir uns die Hände geschüttelt hatten. Wir wagten uns nicht zu nah an ihre Gräben, um nicht zu viel zu sehen; auch durften die Deutschen nicht hinter den Stacheldraht kommen, der vor uns lag. Nachdem wir geplaudert hatten kehrten wir zu unseren Gräben zurück, um zu frühstücken.
Während des ganzen Tages wurde kein Schuss abgegeben. Alles was wir taten war miteinander zu sprechen und uns Geständnisse zu machen, die in diesem seltsamen Moment vielleicht wahrhaftiger waren als während normaler Kriegszeiten. Wie weit dieser inoffizielle Friede entlang den Stellungen ging weiß ich nicht, aber ich weiß, dass das, was ich hier geschrieben habe für die — auf unsere Seite sowie für die aus Westfalen bestehende deutsche 158. Brigade gilt.
Während ich diese kurze und bruchstückhafte Beschreibung eines seltsam menschlichen Geschehens beende, gießen wir Schnellfeuer in die deutschen Gräben und sie beantworten das Kompliment ebenso heftig. Kreischend über uns in der Luft sind die zerschmetternden Granaten der gegnerischen Artilleriebatterien. So sind wir einmal mehr zurück in der Prüfung des Feuers.” (Original auf christmastruce.co.uk)



Weitere Informationen

Weihnachtsfrieden (Wikipedia)
Papst Benedikts XV. Apostolisches Schreiben vom 28. Juli 1915
Augenzeugenberichte britischer Soldaten über den Weihnachtsfrieden 1914 (auf Englisch)

20. November 1914: Welch ein Schlachten

We are the dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved, and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Aus In Flanders Fields von John McCrae


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden
P. Colmberg b. Lehrberg
Mittelfranken

Yperes, 20.11.1914
L. Lina!
Teile dir mit, daß ich noch gesund bin, was ich auch von dir und deinen Angehörigen hoffe. Wir stehen hier schon seit 24. Okt. im Gefecht, und welch ein Schlachten!
Sei bestens gegrüßt von deinem unvergesslichen G. P.


Der deutsche Plan, nach dem Fall der belgischen Festung Antwerpen ab Mitte Oktober die französische Hafenstadt Calais einzunehmen, um die Versorgung der britischen Truppen zu erschweren, geriet in Westflandern ins Stocken und führte zur erbittert geführten Ersten Flandernschlacht (20. Oktober bis 18. November). Belgier, Franzosen, Briten und andere konnten den deutschen Vormarsch in der Gegend um Ypern aufhalten, es folgten jedoch lange Gefechte, bei denen Haus um Haus, Dorf umDorf und Hügel um Hügel in der sonst sehr flachen Landschaft gekämpft wurde. Die 4. Armee wurde dabei von der bayerischen 6. Armee unterstützt, u.a. mit dem II. Armee-Korps. Im Laufe der Schlacht wurden die ersten Schützengräben angelegt, die prägend für den Stellungskrieg der nächsten Jahre wurden.

Der auf der Karte genannte Ort Yperes steht mit ziemlicher Sicherheit für Ypern (engl./frz. Ypres), obwohl die Stadt gerade deswegen bekannt ist, weil sie von den Deutschen nicht eingenommen werden konnte. Vermutlich meint Georg Probst daher das Umland der Stadt. Die vorliegende Postkarte ist eine der sehr seltenen Fälle, in denen er den Schrecken des Krieges anspricht. Seine Division war während der Schlacht südlich von Ypern um den Ort Wijtschate herum eingesetzt. Gerade der Höhenzug Wijtschate–Messines war stark umkämpft und wurde mehrmals von beiden Seiten erobert: das „Schlachten“ war hier nicht zu übersehen.

Die Front bei Ypern steht neben Verdun für die Menschen als bloßes Material vernichtende Kriegsmaschinerie an der Westfront, bei der die Soldaten in Scharen ins Gefecht geschickt wurden und auch ebenso zahlreich ums Leben kamen. Allein die Erste Flandernschlacht forderte über 230.000 Opfer auf beiden Seiten. Am 03. Mai 1915 schrieb der kanadische Lieutenant Colonel John McCrae ein Gedicht in Gedenken an seinen am Tag zuvor gefallenen besten Freund. In Flanders Fields wurde zu einem der berühmtesten Beschreibungen des Sterbens an der flandrischen Front und besingt die Blüten des Mohns, die heute noch als Zeichen des Totengedenkens an allen Gedenkstätten und Friedhöfen der Region sowie darüber hinaus zu finden sind.

In Flanders Fields

In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.

We are the dead. Short days ago
We lived, felt dawn, saw sunset glow,
Loved, and were loved, and now we lie
In Flanders fields.

Take up our quarrel with the foe:
To you from failing hands we throw
The torch; be yours to hold it high.
If ye break faith with us who die
We shall not sleep, though poppies grow
In Flanders fields

Deutsche Übersetzung:

Auf Flanderns Feldern

Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn
Zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe,
Die unseren Platz markieren; und am Himmel
Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend
Unten zwischen den Kanonen kaum gehört.

Wir sind die Toten. Vor wenigen Tagen noch
Lebten wir, fühlten den Morgen und sahen den leuchtenden Sonnenuntergang,
Liebten und wurden geliebt, und nun liegen wir
Auf Flanderns Feldern.

Nehmt auf unseren Streit mit dem Feind:
aus sinkender Hand werfen wir Euch
Die Fackel zu, die Eure sei, sie hoch zu halten.
Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben
So werden wir nicht schlafen, obgleich Mohn wächst
Auf Flanderns Feldern.

Das vertonte Gedicht auf YouTube:



Weitere Informationen

Erste Flandernschlacht (Wikipedia)
Michelin illustrated Guides to the Battlefields (1914-1918): Ypres and the Battles of Ypres (1919). (Englisch)
In Flanders Fields (Wikipedia)

28. Oktober 1914: Wo es hier auch sehr schön ist

13. Oktober 1914. Morgens Fahrt nach Lille. Zwischen Douai und Lille Scharen aus Lille fliehender Einwohner. Vielleicht erwarten sie ein zweites Bombardement der Stadt durch Franzosen und Engländer. In Lille große Nervosität der Bevölkerung; kein Wunder, denn ein Teil der Stadt ist bereits abgebrannt oder steht noch in Flammen. Ich sehe wohl Pompiers, aber keine Löscharbeiten, denn eine Granate hat das Wasserwerk zerstört. Zum Glück herrscht Windstille und geht ein leichtes Nebelreißen hernieder. Überall liegen Trümmer auf den Straßen. Helle Flammen schlagen aus den Fensteröffnungen und Dächern einiger Häuser, andere sind schon ausgebrannt. Die Luft ist stellenweise siedheiß, kleine Rauchwolken wälzen sich aus den Nebengassen, und man hört ein ständiges Knistern und Krachen. Mich erfaßt Mitleid mit der hart geprüften Stadt.

Aus dem Kriegstagebuch von Kronzprinz Rupprecht von Bayern, Oberfehelshaber der 6. Armee.


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Frau
Lina Neefischer
Gutsbesitzertochter
Oberfelden Bahnst.
Lehrberg P. Colmberg
Mittelfranken
Bayern

Lille, 28. 10. 1914
Meine liebe L.
Habe deine Karte erhalten, bin noch gesund, was ich auch von Euch allen hoffe. Sind heute hier in der Festung Lille einquartiert wo es hier auch sehr schön ist. Also lebe wohl, aufs Wiedersehen!
Viele Grüße an deine Eltern u. Schwester von deinem unvergesslichen G. P.
Bester Gruß Mich. Breitschwerdt
Schreibe bald.


Zur Unterstützung der 4. Armee, die seit Mitte Oktober bereits in der Ersten Flandernschlacht um Ypern kämpfte, wurden Teile der bayerischen Armee von Süden in Richtung Ypern herangeführt.

Die französische Stadt Lille nahe der Grenze zu Belgien kapitulierte am 13. Oktober und diente ab Anfang November der 6. Armee als Hauptquartier. Georg Probst machte hier offenbar Station bevor er weiter nördlich in Westflandern auf einem der grausamsten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs eingesetzt wurde.

Frankreich, Lille, nach KämpfenEin Straßenzug in Lille nach Kämpfen 1914.

„Schon bald entwickelte sich Lille auch zu einem Erholungsort für die deutschen Truppen. Die einfachen Soldaten entspannten sich in den Cafés und Kneipen, wo das Bier in Strömen floss. Im Straßenbahn-Kiosk des Grand-Place wurde eine kleine Trinkhalle eingerichtet.  Die Offiziere trafen sich in den beschlagnahmten Café-Restaurants La Paix, Belleville, Royal, Moderne oder l‘Europe. Auf der Rue Nationale trafen sich die Soldaten und flanierten dort gerne. Die von deutschen Zivilisten betriebenen Geschäfte florierten. Vor allem die Bäckereien Yanka, Marquise de Sévigné oder Méert waren immer voll. Eine Militärkantine mit dem Namen Zum Feldgrauen öffnete in der Rue Neuve, eine weitere befand sich in den Räumlichkeiten des Freimaurertempels. Ein „Haus des Soldaten“ wurde im „Cercle militaire“ eingerichtet. Mehrere Kasinos öffneten ihre Pforten: Das Offizier-Kasino auf der Kreuzung Rue Nationle/Rue Pas sowie ein Kasino für Soldaten auf der Rue Neuve. Ein Soldatenkino nahm in der Rue Esquermoise den Betrieb auf.” (wegedererinnerung-nordfrankreich.com)



Weitere Informationen

Erste Flandernschlacht (Wikipedia)
Lille unter deutscher Besatzung

24. Oktober 1914: Sei tausendmal gegrüßt

5. Oktober 1914: Erster Luftkampf über französischem Boden: Zwei französische Jäger schießen ein deutsches Flugzeug ab, dessen Besatzung von 2 Mann dabei umkommt.

Peter Hans Scheible: Weltkrieg 1914-1918 (Trafford Publishing 2004).


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerst.
Oberfelden
Post Lehrberg
Mittelfranken

[?], 24. Okt. 1914
L. Lina
Die besten Grüße von hier aus sendet aus gesundem Sinn dein unvergässlicher G. P. Viele Grüße an deine Eltern und deine Schwester. Deine schöne Karte habe ich erhalten. Sei tausendmal gegrüßt.


Während die Feldpostkarten der deutschen Soldaten im späteren Verlauf des Krieges speziell für jene hergestellt wurden und mit romantisierenden und nationalistischen Durchhalteparolen versehen waren, versendet Georg Probst 1914 noch Karten aus französischer Produktion. Auf der vorliegenden sind sogar französische Soldaten zu sehen, die zu dem Zeitpunkt eigentlich den Feind darstellten: Reservisten, die von Péronne nach Sissonne im Département Aisne aufbrechen.

Die genaue Verortung dieser Karte ist schwierig, da der Ort nicht leicht zu lesen ist. Lösungsversuche und Hinweise dürfen gerne an nochgehtesmirgut@gmail.com geschickt werden. Vermutlich stammt die Karte jedoch aus der gleichen Gegend wie die vorangegangene, da die Division erst ab dem 23. Oktober weiter nach Norden verlegt wird.


15. Oktober 1914: Denn ich habe große Sehnsucht nach Dir

Großes Hauptquartier, 30. September, 9 Uhr 40 Min. abends. (Amtlich.) Nördlich und südlich Albert vorgehende überlegene feindliche Kräfte sind unter schweren Verlusten für sie zurückgeschlagen worden. Aus der Front der Schlachtlinie ist nichts Neues zu melden.

Extrablatt. Cellesche Zeitung und Anzeigen. Donnerstag, den 1. Oktober 1914.


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden
Post Colmberg
Mittelfranken
Bayern

Nordfrankreich, 15. Okt. 1914
L.L.
Habe Karten u. Brief erhalten, was mich von Herzen freute. Ich bin noch gesund, was ich auch von dir hoffe. Ein kleines Pa. würde mich sehr freuen. Der Scheibenberger ist durch Leichtsinn von einem anderen durch den Fuß geschoßen worden. Schreibe mir die Ad. von meinem u. deinem Bruder. Mein inniger Wunsch wäre nur ich möcht dich bald wieder sehen, denn ich habe große Sehnsucht nach dir. Seid alle recht herzlich gegrüßt von deinem treuen G. Probst. Schreibe recht oft u. bald.


Nach dem Einsatz in Lothringen wurde die 4. Königlich Bayerische Division am 18. September 1914 von Metz mit der Eisenbahn nach Namur und schließlich am 25. September in die Gegend nördlich von Péronne verlegt. Bei Combles kämpfte sie bis Mitte Oktober als Teil der 2. Armee.

Wahrscheinlich von dort berichtet Georg Probst sichtlich mitgenommen von der Verletzung seines Kameraden Leonhard Scheibenberger aus Kreuth. Auch in den militärischen Unterlagen ist zu lesen, dass dieser auf “fahrlässige Weise” durch einen Revolverschuss am Fuß verwundet wurde. Zunächst im Lazarett in Bapaume untergebracht, wurde er bis 22. November 1914 im Lazarett des Roten Kreuzes in Rothenburg ob der Tauber behandelt.



Weitere Informationen

Wettlauf zum Meer (Wikipedia)

07. September 1914: Gewiß nicht so wie bei uns

Berlin. Nördlich Metz hat der deutsche Kronprinz mit seiner Armee zu beiden Seiten von Longvy vorgehend, den gegenüberstehenden Feind gestern siegreich zurückgeworfen. Die in Lothringen siegreiche Armee unter Führung des Kronprinzen von Bayern hat auf der Verfolgung den geschlagenen Feind in der Linie Luneville-Blamont erreicht und setzt die Verfolgung fort.
Vor Namur donnern seit vorgestern Abend die deutschen Geschütze.

Extrablatt. Cellesche Zeitung und Anzeigen. Sonntag, den 23. August 1914.


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden
Bayern Mittelfranken
Post Colmberg.

Luinieviele, den 7. Sept. 1914.
L. L.
Schon lange warte ich auf einen Brief oder auf eine Karte aber alles umsonst. Wie geht es denn in der Heimat zu? Gewiß nicht so wie bei uns. Bitte um baldige Anwort. Viele Grüße an alle deine Freundinnen, Eltern und deine Schwester von deinem unvergässlich. Gg Probst.
Besten Gruß erlaubt sich zu senden
Mich. Breitschwerdt
L. Scheibenberger 


Nach dem eher euphorischen Ton der vorangegangenen Postkarten, die während des Aufmarsches an der Westfront verschickt wurden, ist nun nach den ersten Schlachten bereits vage eine veränderte Stimmungslage herauszulesen. Es ist anzunehmen, dass die schockierenden Kriegserlebnisse, denen sich auch Georg Probst nicht verschließen konnte, aus Rücksicht auf die Familien daheim weder in dieser noch in späteren Karten explizit Erwähnung finden.

Bei den beiden erwähnten Personen handelt es sich um Michael Breitschwerdt aus Cadolzhofen und Leonhard Scheibenberger aus Kreuth. Beide gehörten zu Beginn des Krieges wie Georg Probst zur 3. Batterie des 11. Feldartillerie-Regiments. 1914 bestand eine Batterie der Feldartillerie aus 5 Offizieren und 148 Unteroffizieren/Mannschaften mit 139 Pferden, 17 Fahrzeugen und 6 Geschützen, die von einem Hauptmann oder Rittmeister geführt wurden. Georg Probst bekleidete als Fahrer den untersten Dienstgrad der Landstreitkräft und war an der Pistole 08 (“Luger”) und vermutlich der Mauser C96 ausgebildet. Der Eintrag “auf Sattel” in den Militärstammrollen deutet darauf hin, dass er v.a. für das Fahren der Geschütze und der zahlreichen Versorgungswagen eingesetzt wurde. Anders als bei Leonhard Scheibenberger gibt es für ihn keinen Eintrag wonach er an der Feldkanone 96 (7,7 cm), der Standardwaffe der deutschen Feldartillerie, ausgebildet gewesen war.

Als Teil der 4. Königlich Bayerischen Division nahmen sie an den Schlachten in Lothringen und bei Nancy-Épinal teil. Die verlustreiche Schlacht in Lothringen begann am 20. August 1914 mit dem Angriff der 6. Armee unter Kronprinz Rupprecht von Bayern an der Frontlinie Mörchingen-Dieuze-Saarburg. Zusammen mit der 7. Armee wurden dadurch die französischen Streitkräfte der 1ere Armée und 2e Armée bis zum 22. August auf die Festungskette Nancy-Épinal zurück gedrängt. Dem Plan der Obersten Heeresleitung, dort in Richtung Paris durchzubrechen, war jedoch auch bis Mitte September kein Erfolg beschieden. Die meisten Truppenteile wurden anschließend in andere Bereiche der Westfront verlegt.

Im Zusammenhang dieser Geschehnisse muss auch die Karte verstanden werden. Der Ort Luinieviele meint die Stadt Lunéville östlich von Nancy, die vom 22. August bis 12. September 1914 von deutschen Truppen besetzt war.

Der Offizier Rudolf von Xylander notiert in seinem Tagebuch vom 25. August 1914: „Bei den Ersatz Divisionen schon gestern Schweinestall, infolge dessen Lengerke sich gestern Abend erschossen haben soll, der arme Kerl, mit dieser unzureichenden Formation. Heute nun diese Divisionen in schweres Feuer gekommen, das mörderisch war, desgleichen dann das III. Armeekorps, das trotz Verbots in den Feuerbereich der Nancyer schweren Geschütze hineinlief, bloß weil Gebsattel, der bisher noch keine Erfolge gehabt hat, seine Schlacht haben wollte. Auch die ihm unterstellte 5. Reserve-Division bei Lunéville hetzt er in dieses Feuer. […] In Lunéville Mord und Totschlag, Brände. Paniken bei unseren Trains. Wilde Gerüchte. General Quade, der frühere Chef der Ersatz-Abteilung, der jetzt eine Brigade der 8. Ersatz-Division führte und wegen delirium tremens nach Hause geschickt wurde, verbreitet in Château Salins die übelsten Niederlagengerüchte. Es ist unglaublich, wie eine sieghafte Armee in so kurzer Zeit durch einen einzigen Rückschlag in eine solche Verfassung gebracht werden kann. Die Nerven unserer seit vielen Tagen kämpfenden braven Truppen sind eben überreizt.“
Der Historiker Alan Kramer kommentiert: „Die bayerische Armee stand – so viel wird daraus deutlich – unter enormem Leistungsdruck. Ob dieser aus partikularistischer oder gar dynastischer Rivalität herrührte, ist für diese Untersuchung unerheblich. Fest steht aber, daß die bayerischen Kommandeure ohne Absprache mit dem Großen Generalstab und ohne Verantwortungsbewußtsein für ihre Soldaten handelten, indem sie diese ohne Artillerieunterstützung in eine stark verteidigte Festungszone vorschickten. Nicht nur Verluste, Entmutigung und Nervenzusammenbrüche der Truppenführer waren das Ergebnis, sondern auch die Verübung von Verbrechen an der Zivilbevölkerung.“*



Weitere Informationen

Schlacht in Lothringen (Wikipedia)
Lunéville (Wikipedia)
Feldartillerie im Deutschen Kaiserreich (Wikipedia)
Pistole 08 (Wikipedia)
7,7 cm Feldkanone 96 n.A. (Wikipedia)

* Beide Zitate: Alan Kramer: “Greueltaten”. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914. In: Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hgg.): ‘Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…’. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; N.F. 1), Essen: Klartext Verlag 1993. [pdf]