07. September 1914: Gewiß nicht so wie bei uns

Berlin. Nördlich Metz hat der deutsche Kronprinz mit seiner Armee zu beiden Seiten von Longvy vorgehend, den gegenüberstehenden Feind gestern siegreich zurückgeworfen. Die in Lothringen siegreiche Armee unter Führung des Kronprinzen von Bayern hat auf der Verfolgung den geschlagenen Feind in der Linie Luneville-Blamont erreicht und setzt die Verfolgung fort.
Vor Namur donnern seit vorgestern Abend die deutschen Geschütze.

Extrablatt. Cellesche Zeitung und Anzeigen. Sonntag, den 23. August 1914.


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Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden
Bayern Mittelfranken
Post Colmberg.

Luinieviele, den 7. Sept. 1914.
L. L.
Schon lange warte ich auf einen Brief oder auf eine Karte aber alles umsonst. Wie geht es denn in der Heimat zu? Gewiß nicht so wie bei uns. Bitte um baldige Anwort. Viele Grüße an alle deine Freundinnen, Eltern und deine Schwester von deinem unvergässlich. Gg Probst.
Besten Gruß erlaubt sich zu senden
Mich. Breitschwerdt
L. Scheibenberger 


Nach dem eher euphorischen Ton der vorangegangenen Postkarten, die während des Aufmarsches an der Westfront verschickt wurden, ist nun nach den ersten Schlachten bereits vage eine veränderte Stimmungslage herauszulesen. Es ist anzunehmen, dass die schockierenden Kriegserlebnisse, denen sich auch Georg Probst nicht verschließen konnte, aus Rücksicht auf die Familien daheim weder in dieser noch in späteren Karten explizit Erwähnung finden.

Bei den beiden erwähnten Personen handelt es sich um Michael Breitschwerdt aus Cadolzhofen und Leonhard Scheibenberger aus Kreuth. Beide gehörten zu Beginn des Krieges wie Georg Probst zur 3. Batterie des 11. Feldartillerie-Regiments. 1914 bestand eine Batterie der Feldartillerie aus 5 Offizieren und 148 Unteroffizieren/Mannschaften mit 139 Pferden, 17 Fahrzeugen und 6 Geschützen, die von einem Hauptmann oder Rittmeister geführt wurden. Georg Probst bekleidete als Fahrer den untersten Dienstgrad der Landstreitkräft und war an der Pistole 08 (“Luger”) und vermutlich der Mauser C96 ausgebildet. Der Eintrag “auf Sattel” in den Militärstammrollen deutet darauf hin, dass er v.a. für das Fahren der Geschütze und der zahlreichen Versorgungswagen eingesetzt wurde. Anders als bei Leonhard Scheibenberger gibt es für ihn keinen Eintrag wonach er an der Feldkanone 96 (7,7 cm), der Standardwaffe der deutschen Feldartillerie, ausgebildet gewesen war.

Als Teil der 4. Königlich Bayerischen Division nahmen sie an den Schlachten in Lothringen und bei Nancy-Épinal teil. Die verlustreiche Schlacht in Lothringen begann am 20. August 1914 mit dem Angriff der 6. Armee unter Kronprinz Rupprecht von Bayern an der Frontlinie Mörchingen-Dieuze-Saarburg. Zusammen mit der 7. Armee wurden dadurch die französischen Streitkräfte der 1ere Armée und 2e Armée bis zum 22. August auf die Festungskette Nancy-Épinal zurück gedrängt. Dem Plan der Obersten Heeresleitung, dort in Richtung Paris durchzubrechen, war jedoch auch bis Mitte September kein Erfolg beschieden. Die meisten Truppenteile wurden anschließend in andere Bereiche der Westfront verlegt.

Im Zusammenhang dieser Geschehnisse muss auch die Karte verstanden werden. Der Ort Luinieviele meint die Stadt Lunéville östlich von Nancy, die vom 22. August bis 12. September 1914 von deutschen Truppen besetzt war.

Der Offizier Rudolf von Xylander notiert in seinem Tagebuch vom 25. August 1914: „Bei den Ersatz Divisionen schon gestern Schweinestall, infolge dessen Lengerke sich gestern Abend erschossen haben soll, der arme Kerl, mit dieser unzureichenden Formation. Heute nun diese Divisionen in schweres Feuer gekommen, das mörderisch war, desgleichen dann das III. Armeekorps, das trotz Verbots in den Feuerbereich der Nancyer schweren Geschütze hineinlief, bloß weil Gebsattel, der bisher noch keine Erfolge gehabt hat, seine Schlacht haben wollte. Auch die ihm unterstellte 5. Reserve-Division bei Lunéville hetzt er in dieses Feuer. […] In Lunéville Mord und Totschlag, Brände. Paniken bei unseren Trains. Wilde Gerüchte. General Quade, der frühere Chef der Ersatz-Abteilung, der jetzt eine Brigade der 8. Ersatz-Division führte und wegen delirium tremens nach Hause geschickt wurde, verbreitet in Château Salins die übelsten Niederlagengerüchte. Es ist unglaublich, wie eine sieghafte Armee in so kurzer Zeit durch einen einzigen Rückschlag in eine solche Verfassung gebracht werden kann. Die Nerven unserer seit vielen Tagen kämpfenden braven Truppen sind eben überreizt.“
Der Historiker Alan Kramer kommentiert: „Die bayerische Armee stand – so viel wird daraus deutlich – unter enormem Leistungsdruck. Ob dieser aus partikularistischer oder gar dynastischer Rivalität herrührte, ist für diese Untersuchung unerheblich. Fest steht aber, daß die bayerischen Kommandeure ohne Absprache mit dem Großen Generalstab und ohne Verantwortungsbewußtsein für ihre Soldaten handelten, indem sie diese ohne Artillerieunterstützung in eine stark verteidigte Festungszone vorschickten. Nicht nur Verluste, Entmutigung und Nervenzusammenbrüche der Truppenführer waren das Ergebnis, sondern auch die Verübung von Verbrechen an der Zivilbevölkerung.“*



Weitere Informationen

Schlacht in Lothringen (Wikipedia)
Lunéville (Wikipedia)
Feldartillerie im Deutschen Kaiserreich (Wikipedia)
Pistole 08 (Wikipedia)
7,7 cm Feldkanone 96 n.A. (Wikipedia)

* Beide Zitate: Alan Kramer: “Greueltaten”. Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914. In: Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hgg.): ‘Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…’. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte; N.F. 1), Essen: Klartext Verlag 1993. [pdf]

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