22. Mai 1915: Habe soeben das Marktstück erhalten

The following statement from the general staff of the Russian commander in chief was made public tonight:
“It has been definitely established that the Germans are concentrating very great forces in east Prussia. These forces have started an offensive, which they are developing, especially in the direction of Wilkowyszki (north of Augustowo) and Lyck. The presence is reported of units composed of new recruits from central Germany. Our troops, keeping the enemy in check, are retiring from the Mazurian lakes toward our frontier.”

Sacramento Union, 12. Februar 1915.


Vorderseite Rückseite

Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden Mittelf.
Post Colmberg
Bahnst. Lehrberg

Die besten Grüße sendet dir dein Georg Probst. Habe soeben das Marktstück erhalten, meinen besten Dank. Die besten Grüße an d. Eltern.


Bei diesem Exemplar handelt es sich um die erste Karte, auf der Georg Probst nicht mehr den Ort nennt, an dem er sich gerade befindet. Das wird sich auf allen verbleibenden Feldpostkarten nicht mehr ändern und ist vermutlich einem Befehl zuzuschreiben, der verhindern soll, dass der Feind durch abgefangene Post die Standorte der deutschen Einheiten erfährt. Durch Otto Freiherr von Waldenfels Buch über die Geschichte des 11. Feldartillerie-Regiments von 1931 lassen sich die Truppenbewegungen, wenn auch nicht mehr so genau, doch immer noch grob nachvollziehen. Demnach befindet sich die Artillerieeinheit nach wie vor im Stellungskrieg östlich von Messines.

Die Vorderseite der Postkarte zeigt Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg wie er mit seinen mächtigen Armen ein ganzes Feld von winzigen gegnerischen Soldaten, die teilweise in der Flucht begriffen sind, umschließt. Die Abbildung stellt die Winterschlacht in Masuren dar, die im Februar 1915 stattfand. Das Deutsche Reich unter von Hindenburg konnte die Schlacht für sich entscheiden, wobei 16.200 deutsche und 56.000 russische Soldaten fielen, verletzt oder vermisst wurden. Außerdem wurden etwa 100.000 russische Soldaten gefangen genommen, worauf von Hindenburgs Geste auf der Karte hindeutet. Für den Sieg erhielt er das Eichenlaub zu seinem Orden Pour le Mérite (französisch „für das Verdienst“), der höchsten preußischen Tapferkeitsauszeichnung, die er bereits im Vorjahr nach der Schlacht bei Tannenberg erhalten hatte. Auf der Propagandapostkarte ist der Orden mit Eichenlaub prominent zu sehen.

Anders als der Generalfeldmarschall freut sich Georg Probst als Fahrer an der Westfront über weniger prunkvolle Dinge und bedankt sich auf der Karte bei Lina für ein Marktstück. Während der Ausdruck im heutigen Sprachschatz verschwunden und auch im Duden nicht mehr zu finden ist, geben ältere Wörterbücher Auskunft über die Bedeutung des Wortes: „Jahrmarktsgeschenk, bes. das der Bursche seinem Mädchen kauft“ (Rheinisches Wörterbuch, 1928-1971), „Geschenk vom Markt, von der Kirchweihe“ (Pfälzisches Wörterbuch, 1965-1998), „Geschenk, das der Bursche seiner Geliebten vom Markt aus der Stadt mitbringt“ (Wörterbuch der elsässischen Mundarten, 1899-1907). Worum es sich bei dem Geschenk allerdings genau handelte, muss offen bleiben. Zu vermuten ist, dass der praktische Nutzen für den Frontsoldaten den des Orden Pour le Mérite deutlich übertraf.



Weitere Informationen

Winterschlacht in Masuren
Orden Pour le Mérite

01. Mai 1915: Wenn nur doch bald Frieden käme

„Über der Lunge verbreitet hört man das feinblasige, kochende Ödemrasseln, die Kranken ringen ächzend und stöhnend nach Luft. In diesem Zustande bietet der Kranke für die Umgebung ein schaudervolles Bild des Jammers. Man sieht förmlich, wie der Kranke in der eigenen Flüssigkeit ertrinkt, die sich in die Lungen ergossen hat. Man hat seit dem Weltkriege manches Wort über die Humanität des Gaskrieges gehört: Wer jemals einen Gaskranken in dem beschriebenen Stadium des Höhepunktes des Lungenödems gesehen hat, der muß, wenn er noch einen Funken von Menschlichkeit besitzt, verstummen.“

Der kommandierende General des 5. Armeekorps, zitiert in Muntschs „Leitfaden der Pathologie und Therapie der Kampfstofferkrankungen“ (Leipzig 1932), zitiert nach Wietzker 2006.


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Feldpostkarte
Fräulein
Lina Neefischer
Gutsbesitzerstochter
Oberfelden Mittelfranken
Post Colmberg Bahnst. Lehrberg

Werte Lina!
Habe deinen werten Brief und dein liebes Paketchen erhalten, was mich herzlich gefreut hat. Sonst ist bei dir noch alles gut und wohlauf, was auch bei mir noch der Fall ist. Nochmals meinen besten dank für den vorzüglichen Inhalt, besonders aber freute mich die Cigarrenspitz, es wird mir eine ewige Erinnerung sein. Dein Bruder hat mir auch wieder geschrieben, daß ihm soweit gut geht. Wir haben zur Zeit sehr heiße Witterung, und ich muß furchtbar schwitzen. War mein Bruder nicht erst bei dir? Wenn nur doch bald der schon lang ersehnte Frieden käme. Brief folgt demnächst. Haben z. Z. sehr viel Arbeit. Herzlich grüßt dich sowie deine l. Eltern u. d. Schwager u. Sch. Gg Probst


Nicht nur mit Postkarten und Briefen versuchte Lina mit Georg Kontakt zu halten, sondern sie schickte ihm offenbar auch immer wieder verschiedenste Geschenke. Auf dieser Postkarte bedankt sich Georg Probst für eine Zigarrenspitze, die er neben anderen Dingen mit dem letzten Päckchen erhielt. Dabei handelte es sich nicht etwa um vordersten Teil einer Zigarre, sondern um ein Mundstück, in das man eine Zigarre stecken und sie dadurch rauchen konnte.  So sehr der Soldat sich für dieses Geschenk bedankt: Die Post aus der Heimat, die Kostprobe heimatlichen Wohlstands in Kontrast zum mühevollen Frontleben in Form der Zigarrenspitze sowie die Gedanken an die Famile, führen schließlich zum Ausdruck seiner Friedenssehnsucht. Diese steht jedoch im krassen Kontrast zum tatsächlichen Geschehen an der Westfront.

Während Georg Probst seine Zigarren mit besagter Spitze rauchte, fand nur wenige Kilometer weiter nördlich der Stellung des 11. Feldartillerie-Regiments bei Mesinnes die Zweite Flandernschlacht statt. Dabei wurde am 22. April 1915 von den Deutschen zum ersten Mal Giftgas verwendet: 150 Tonnen Chlorgas wurden nordwestlich von Ypern freigesetzt und krochen auf einer Breite von 7 km auf die alliierten Grabensysteme zu. Allein 3.000 tote und 7.000 verletzte Soldaten waren die Folge dieses Einsatzes und der Gaskrieg, der fortan von beiden Kriegsparteien geführt wurde, war eröffnet. Nach einem Monat und zahllosen Opfern wurde der deutsche Durchbruchsversuch eingestellt und die Schlacht damit beendet. Der Krieg selbst jedoch hatte nach der erstmaligen Verwendung von Massenvernichtungswaffen eine neue Qualität erreicht.



Weitere Informationen

Zweite Flandernschlacht (Wikipedia)
Gaskrieg während des Ersten Weltkriegs (Wikipedia)
Wolfgang Witzker: Giftgas im Ersten Weltkrieg. Was konnte die deutsche Öffentlichkeit wissen? (Dissertation Düsseldorf 2006) [pdf]