„Grade die tiefe Verwurzelung mit der Heimat schließt das Vaterlandsgefühl im Landvolk ganz aus, das ihm mit dem Vorgeben zugemutet wird, die Heimat erstrecke sich über das ganze jeweils staatlich beherrschte Land, welches, dem heimischen Acker gleich, innerhalb der geltenden Staatsgrenzen zu lieben sei, wobei vor und nach Kriegen das mit solcher Liebe zu umfangende Gebiet in neuen, engeren oder weiteren Grenzen ins Heimatgefühl einbezogen werden müsse. Der bäuerliche Geist kennt weder eine seelische Zusammengehörigkeit mit Menschen, zu denen gar keine gemeinsamen Lebenswege laufen, mögen diese Menschen immerhin innerhalb der gleichen Staatsgrenzen wohnen, noch kennt er Haß und Geringschätzung gegen Fremde, die nicht schädigend in seine Kreise einzudringen suchen, mögen diese Fremden diesseits oder jenseits eines Gebirgszuges hausen, mögen sie eine Hautfarbe, eine Kopfform, eine Ahnenreihe haben wie sie wollen. Dagegen sträubt sich die Natur des Bauern aufs heftigste gegen alles, was ihm die Selbstbestimmung in seinem Schaffensbezirk schmälern will, was den Geist der gegenseitigen Verständigung auf dem Lande durch obrigkeitlichen Befehl zu ersetzen sucht, gegen jedes Dreinreden einer Zentralstelle in seine Angelegenheiten, gegen Beamtentum und Bürokratie, gegen den Staat, wo das Dorf in Frage steht, gegen das Gesetz, wo Verträge möglich sind.“
Erich Mühsam über die Bauern (Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, 1933).
Feldpostkarte
Wohlgb.
Herrn Georg Neefischer
Gutsbesitzer
Oberfelden P. Colmberg
Bahnst. Lehrberg MittelfrankenKomines 3.4.1915.
Werter Vetter!
Es ist ja schon eine lange Zeit her, daß wir von der lieben Heimat Abschied genommen haben, und ich erlaube mir auch einmal mit einer Karte aus fernem Feindesland zu grüßen. Mir geht es soweit noch gut u. bin noch gesund, was ich auch von Euch allen hoffe. Hoffend grüßt Euch auf ein baldiges Wiedersehen Euer Vetter Gg. Probst.
Dass die Beziehung zwischen Georg Probst und Lina Neefischer keine beiläufige oder gar von den beiden geheim gehaltene Bekanntschaft war, bezeugt diese Postkarte von Anfang April 1915. Während bisher nur Lina die Empfängerin der Karten war, ist sie nun an ihren Vater, Georg Neefischer (1845-1928), adressiert. Über das Verhältnis der beiden Namensvettern lässt sich nur spekulieren und vermuten, dass Georg Probst als ältester Sohn eines großen Bauern aus dem nahen Binzwangen von dem ebenfalls großen Bauern („Gutsbesitzer“) aus Oberfelden als gute Partie für seine Tochter angesehen wurde. In jedem Fall zeugt die Wortwahl auf der Karte von bewusster Ehrerbietung, z.B. wenn vom „wohlgeborenen Herrn“ und „wertem Vetter“ die Rede ist. Obwohl das Prädikat Wohlgeboren eine sehr variable Verwendung fand, deutet es auf eine durchaus angesehene Stellung zumindest in der Dorfgemeinschaft hin. Die Anrede als Vetter bezeichnet hier natürlich kein Verwandtschaftsverhältnis, sondern ist eher als „ehrende Anrede“* zu verstehen.
Haus der Familie Neefischer in Oberfelden. (Notiz auf Fotografie: „Bruder von Oma und Eltern“, vermutlich 1. v.l. Bruder, 2. v.l. Mutter und 4. v.l. Vater von Lina Neefischer.)
Der Hof der Familie Neefischer, dem Bestimmungsort der Postkarten aus Belgien und Frankreich, ist geprägt von einem eingeschossigen Fachwerkhaus aus dem Jahre 1699, das wohl bereits Anfang des 19. Jahrhunderts durch sein hohes Alter aufgefallen und heute im 315. Jahr seines Bestehens als Baudenkmal in der Denkmalliste eingetragen ist. Das Entstehungsjahr der abgebildeten Fotografie ist leider nicht überliefert und auch die Personen sind derzeit nicht eindeutig zuzuordnen. Vermutlich handelt es sich aber bei der 2. und 4. Person von links um die Eheleute Neefischer, d.h. um die Eltern von Lina.
Obwohl die folgenden Abbildungen die Situation im frühen und mittleren 19. Jahrhundert wiedergeben, d.h. etliche Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, sollen sie hier zur Illustration der Landschaft und des Ortsbilds dienen. Es ist anzunehmen, dass sich zwischen ihrer Enstehung und dem Ersten Weltkrieg weniger verändert hat als zwischen dem Ersten Weltkrieg und heute. Die Positionsblätter Bayerns entstanden aufgrund militärischer Überlegungen zwischen 1821 und 1881 im Maßstab 1 : 25.000 und dienten als Vorlage für die Erstellung des Topographischen Atlas vom Königreich Bayern. Im hier gezeigten Ausschnitt befinden sich Stettberg, Binzwangen, Oberhegenau und Oberfelden sowie die damaligen Straßen, Wege und Flussverläufe.
Positionsblatt der Gegend um Binzwangen und Oberfelden. (Karte im BayernAtlas anzeigen. Positionsblätter 1:25000 (1817-1856): © 2014 Bayerische Vermessungsverwaltung.)
Die Karten der bayerischen Uraufnahme wurden zwischen 1808 und 1864 geschaffen, um eine Grundlage für eine exakte Berechnung der Grundsteuer zu erhalten, weshalb sie auch jedes einzelne Grund- und Flurstück aufweisen. Zu einem Besitz gehörende Flächen sind darin jeweils mit einer Nummer versehen, was einen interessanten Einblick in die damaligen Eigentumsverhältnisse erlaubt.
Oberfelden und umliegende Flurstücke im 19. Jahrhundert. (Karte im BayernAtlas anzeigen. Uraufnahme (1808-1864): © 2014 Bayerische Vermessungsverwaltung.)